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Kernfragen: Wirtschaftswachstum und Energiepolitik

Variationen über das Thema „Einfalt und Vielfalt“ – Das Wesen der globalen Beschleunigungskrise. – Diesen Vortrag hielt Peter Kafka am 13. Oktober 1978, kurz vor der Volksabstimmung über die Betriebsgenehmigung des Kernkraftwerkes Zwentendorf, vor steirischen Unternehmern in der Grazer Industrie- und Handelskammer.

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Meine Damen und Herren!






Sie sollen demnächst über die Betriebsgenehmigung für das erste österreichische Kernkraftwerk in Zwentendorf abstimmen, und ich bin deshalb zu Ihnen gekommen, um Emotionen gegen Kraftwerke zu wecken oder zu schüren. Die von einem Wissenschaftler erwartete wertfreie Betrachtung kann ich Ihnen nicht bieten – aber an Wertlosem herrscht ja ohnehin kein Mangel. Auch die Kernkraftwerke werden allerdings in meinem Vortrag nur am Rande erwähnt werden. Ich möchte nämlich versuchen, Ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir nicht so sehr in eine Energiekrise im landläufigen Sinn geraten sind, als vielmehr in eine Krise der Evolution des Lebens und des menschlichen Geistes. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich „Bewusstsein schärfen“ und „Emotionen wecken“ fast in einem Atem sage? Ich meine, unsere Emotionen sind bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte den möglichen Berechnungen weit überlegen. Sie sind sozusagen das empfindlichste Sinnesorgan unseres Bewusstseins. Was wir in Zahlen fassen können ist kaum der Rede wert. Mathematisierung ist erfolgreich in so simplen Dingen wie Physik; wenn wir aber über Menschen und ihre Gesellschaft sprechen sind nur die allerunwesentlichsten Dinge Berechnungen zugänglich. Die Behauptung, wir seien in den Wissenschaften erwachsen geworden, emotional aber Kinder geblieben, stellt die Wahrheit auf den Kopf. Der modische Trend zur Mathematisierung und Computerherrschaft ist ein Zeichen von Infantilismus. Sie haben vielleicht auch einmal beobachtet, dass Kinder, wenn sie die Idee der Zahl entdecken, vom Zählen wie besessen sind und einander immer noch darin übertrumpfen wollen. In einem verwandten Zustand befinden sich anscheinend die meisten Ökonomen und Politiker – leider auch viele Wissenschaftler.

Jeder Gymnasiast weiß, dass schon einer sogenannten komplexen Zahl nur ein Wert zugeordnet werden kann, wenn man zum Beispiel verabredet, dass ihre beiden Komponenten auf gleiche Weise gewichtet werden. Unsere Anführer aber dürfen, ohne durchzufallen, den Erfolg eines Landes oder der Menschheit mit einer einzigen Zahl, dem Bruttosozialprodukt, bewerten. Noch immer wird ihnen von den Wachstumsbesessenen eingetrichtert: Wenn das reale Bruttosozialprodukt nicht wächst, so geht es uns schlechter. Überlegen Sie einmal, was das heißt! Das reale Bruttosozialprodukt soll ja ein zusammenfassendes Maß aller unserer Tätigkeiten sein. Wenn es gleich bliebe, sollte es uns also mindestens gleich gut gehen. Geht es uns bei gleichbleibendem Sozialprodukt schlechter, so beweist dies, dass unsere Tätigkeiten im Durchschnitt unserem Wohlergehen mehr schaden als nutzen. Also sollten wir doch nicht mehr vom Gleichen tun, sondern weniger. Angesichts der stets behaupteten Beziehung zwischen wachsendem Bruttosozialprodukt und steigendem Energieverbrauch weckt dies den Verdacht, dass wohl auch der Energieverbrauch sinken muss, damit es uns besser geht.

Worüber lachen Sie? Das ist keine polemische Pointe, sondern Logik! Lachen Sie doch bitte endlich über die Wirtschaftsminister, die Ihnen noch immer das Bruttosozialprodukt als Wertmaßstab präsentieren und sein Wachstum um soundso viele Prozent als Jahresziel verordnen!

Fragen wir also: Können wir überhaupt Werte beurteilen? An welchen Maßstäben messen wir? Und wie wichten wir? Das heißt: Wie wägen wir verschiedene Werte gegeneinander ab? Oder: Sollen wir angesichts der Schwierigkeit von Werturteilen einfach auf sie verzichten und darauf vertrauen, dass der Liebe Gott oder Mutter Natur oder die freie Marktwirtschaft schon alles recht machen werden? Schließlich sind sich ja fast alle darüber einig, dass wir es ziemlich weit gebracht haben. Und offenbar ist es doch im Durchschnitt während der letzten Jahrhunderte – ja auch Jahrtausende und Jahrmillionen – stets aufwärts oder vorwärts gegangen, und dabei scheinen Betrachtungen über Werte kaum eine Rolle gespielt zu haben. Was im „Kampf ums Dasein“ siegte, ist eben wertvoll.

Sollen wir also einfach alles weiterlaufen lassen?

Bevor wir hierauf antworten sollten wir aber einen etwas schärferen Blick auf die Vergangenheit werfen. Vielleicht lässt sich doch etwas mehr aus ihr lernen. Und weil ich Astrophysiker bin kann ich es mir nicht verkneifen, mit dem Anfang der Welt zu beginnen. Da nun einmal das wissenschaftliche Weltbild der unserem Bewusstseinszustand angemessene Aberglaube ist, lassen Sie mich mit wenigen Sätzen durch die Weltgeschichte springen, wie sie sich den Wissenschaftlern darstellt.

Wir wissen ja heute, dass unsere Welt – das heißt alles, was wir sehen oder erfahren – nicht im Gleichgewicht ist, sondern sich aus einem extrem einfachen Anfangszustand zu immer höherer Komplexität entwickelt hat. Und der Schöpferdrang, der diese Entwicklung vorantreibt, lässt sich vielleicht als Folge der Anfangsbedingungen sowie der Gesetze der Physik und Wahrscheinlichkeitstheorie begreifen.






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Drängen wir die Geschichte des Universums auf ein Jahr zusammen. Stellen Sie sich vor: Es ist Silvesternacht und wir erwarten den Gong, der das neue Jahr ankündigt. Genau vor einem Jahr möge unsere Welt im sogenannten Urknall entstanden sein. Dann steht jeder Monat in unserem Bild für etwa eine Milliarde Jahre. Und nun erinnern Sie sich:

Vor genau einem Jahr war alles, was wir jetzt vom Universum sehen, ganz dicht bei uns, vielleicht in einem einzigen Punkt mit uns. Der Urstoff – eine Strahlung, die den ganzen Raum gleichmäßig und mit ungeheuerer Dichte und Temperatur erfüllte – besaß noch keinerlei Struktur. Aber durch den Schwung der geheimnisvollen Urexplosion dehnt er sich seither überall gegen seine Schwerkraft aus und kühlt sich dabei ab. Nun erzwingen die Naturgesetze – was immer das ist – und die Regeln der Statistik die Entstehung und Entwicklung von Strukturen. Schon in einem winzigen Bruchteil der ersten Sekunde des 1. Januar entsteht die Materie, die Elementarteilchen, und gleich darauf die einfachsten Atomkerne – Wasserstoff und Helium. Bei der weiteren Ausdehnung und Abkühlung nimmt die Dichte dieser Materie langsamer ab als die der Strahlung, und so gewinnt irgendwann am 1. oder 2. Januar die Materie die Oberhand. Erst als die Temperatur unter einige Tausend Grad gesunken ist beginnt die Materie unter ihrer eigenen Schwerkraft Klumpen zu bilden. So entstehen noch vor Ende Januar die Galaxien, und in diesen die ersten Sterngenerationen. Nun brauen die Sterne in ihren zentralen Atomreaktoren die höheren chemischen Elemente. Sterbende Sterne reichern das sie umgebende Gas damit an, zum Teil auch in Staubform. Die Gesetze der Kernphysik sorgen dafür, dass Kohlenstoff besonders häufig wird. Atom- und Molekülphysik bewirken, dass auf Staubkörnern in der Nähe von Sternen mittels derer ultravioletter Strahlung bereits komplizierte organische Moleküle gebildet werden. Radioastronomen haben in den letzten Jahren mehr und mehr davon entdeckt.

Nun ist also schon mehr als das halbe Jahr vergangen, da entsteht Mitte August aus einer zusammenstürzenden Wolke von Gas und Staub unser Sonnensystem. Schon am ersten Tag ist die Sonne etwa in ihrem heutigen Zustand und versorgt ihre Planeten mit einem ziemlich konstanten Strahlungsstrom von etwa 6000 Grad Temperatur. Im Erdabstand bedeutet das eine Leistung von etwa 1,3 Kilowatt pro Quadratmeter (wir kommen darauf zurück). Da der übrige Himmel dunkel und kalt ist kann die Erde die so empfangene Energie bei viel tieferer Temperatur wieder abstrahlen. Nach statistischen Gesetzen, für deren teilweise Erforschung Ilya Prigogine letztes Jahr den Nobelpreis erhielt, möchten sich dabei auf der Erde Zustände einstellen, in denen möglichst kompliziert geordnete Strukturen entstehen, oder – mit einem Fachausdruck – in denen die Entropie-Erzeugung möglichst klein ist. Unter den gegebenen physikalischen Gesetzen erzwingt dies nun erst chemische, dann biologische, schließlich kulturelle Evolution – immer nach Darwins Regeln durch Konkurrenz in der Vielfalt.

Von Mitte September stammen die ältesten Gesteine der Erdoberfläche, von Anfang Oktober stammen die ersten erhaltenen Lebensbeweise: Fossilien von Algen. Mehr als zwei Monate lang entwickeln sich nun Pflanzen und Tiere in den Gewässern. Die ersten Wirbeltier-Fossilien stammen vom 16. Dezember. Am 19. Dezember erobern die Pflanzen die Kontinente, und Fische bilden Kieferknochen. Am 20. Dezember sind die Landmassen mit Wald bedeckt und das Leben schafft sich selbst eine sauerstoffreiche Atmosphäre. Nun wird das ultraviolette Licht zurückgehalten, sodass noch komplexere und empfindlichere Formen des Lebens möglich werden.

Am 22. und 23. Dezember, während sich unsere Steinkohlelager bilden, entstehen aus Lungenfischen amphibische Vierfüßler und erobern feuchtes Land. Aus ihnen entwickeln sich am 24. Dezember die Reptilien, die auch das trockene Land besiedeln. Am 25. Dezember wird das warme Blut erfunden. Spät abends erscheinen die ersten Säugetiere, aber für die nächsten zwei Tage führen sie noch ein Kümmerdasein neben den Sauriern: In Nischen, verborgen vor den Mächtigen, wird die Intelligenz vorbereitet.

Am 27. Dezember entwickeln sich aus den Reptilien auch die Vögel, am 28. und 29. übernehmen sie gemeinsam mit den Säugetieren die Macht von den aussterbenden Drachen. In der Nacht zum 30. beginnt die noch andauernde Auffaltung des Gebirges Ihrer Heimat, die seitdem im Erdbebengürtel liegt.

Bis jetzt ist die biologische Information stets im Wesentlichen in den sogenannten Genen, das heißt in Nukleinsäuremolekülen gespeichert. Erst ab 30. Dezember wird die Speicherung in größeren Eiweißstrukturen wie Gehirne benutzt, um diese genetische Fixierung zu ergänzen: Das Lernen wird wichtig, Seele und Geist können sich entwickeln.

In der Nacht zum 31. Dezember – vergangene Nacht! – entspringt der Menschenzweig dem Ast, der zu den heutigen Menschenaffen führt. Nun bleibt uns ein Tag, um uns selbst zu entwickeln. Mit etwa 20 Generationen pro Sekunde scheint dies nicht schwierig, aber unser Werdegang ist dürftig dokumentiert. Erst von etwa 10 Uhr am Silvesterabend stammen die Skelettreste der Oldoway-Schlucht in Ostafrika. Fünf Minuten vor Zwölf leben die Neandertaler. Ihre Gehirne sind schon vergleichbar den unseren. Zwei Minuten vor Zwölf sitzen wir ums Feuer, stammeln und winseln und klatschen rhythmisch in die Hände, bemalen die Wände unserer Höhlen mit Bildern unserer Beutetiere und tun Waffen oder Honig und Körner in die Gräber unserer Väter. Die Blütezeit der Sprachen und damit der Kulturen bricht an.

Seit 15 Sekunden wird die Geschichte Chinas und Ägyptens überliefert. Fünf Sekunden vor Zwölf wird Jesus Christus geboren. Eine Sekunde vor Zwölf beginnen die Christen gerade mit der Ausrottung der amerikanischen Kulturen. Was glauben Sie, wie viele Tier- und Pflanzenarten wir heute jeden Tag ausrotten?

Oh – da ist schon der Gong! Hier sind wir im neuen Jahr! Was wird es bringen?






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In unserem Bild wurde besonders deutlich, wie zum Schluss alles immer schneller geht. Die Geschwindigkeit hat schon etwas komisches – als liefe der Film schneller und schneller. Also liegt es nicht am Zeitraffer. Noch bevor in der Glocke, die das neue Jahr einläuten soll, der Klöppel die Wand trifft und den ersten Ton erzeugt, werden wir alles Öl verpufft haben, das uns die Sonne während der letzten Wochen speichern half. Noch immer wächst die Erdbevölkerung nach einer mathematischen Formel, die in etwa 50 Jahren – das heißt in wenig über einer Zehntelsekunde unseres Zeitrafferfilms – einen unendlichen Wert liefert! Aber wir erlauben unseren Politikern, nur eine Hundertstelsekunde vorauszudenken – so lang ist eine Wahlperiode.

Milliarden von Jahren brauchte die physikalische, chemische und biologische Evolution, bevor das System des Lebens – dieser wunderbare Organismus! – unseren Planeten einhüllte. Aber nur wenige Millionen Jahre reichten aus zur Erschaffung des Menschen, der jüngsten Blüte dieses Organismus. Und bald merkte der Mensch, dass er nicht einfach ein weiteres Tier darstellt. Mit ihm hat die nach-biologische Entwicklung begonnen. Zusätzlich zum genetisch fixierten Verhalten werden Traditionen entwickelt und durch Erziehung vererbt. Biochemische Mutation und Selektion verlieren die Vorherrschaft; revolutionäres Denken und erfinderisches Planen führen zu den neuartigen Mutationen, mit denen Traditionen immer schneller geändert werden. Immer komplexere Strukturen entwickeln sich, wie Bibliotheken oder die Kunst der Fuge. Durch die Technik wird immer mehr Materie in den Lebensprozess miteinbezogen. Der Kampf an der Front der Evolution wird nicht mehr so sehr von den Gesetzen der Physik, Chemie und Biologie bestimmt, sondern von seelisch-geistigen und technisch-wirtschaftlichen Kräften. Die neuen Kräfte und die größere Populationsdichte beschleunigen den Evolutionsprozess mehr und mehr.

Und da geschieht das unvermeidliche Unglück: Technik und Wirtschaft entdecken die fossilen Energiequellen. Die Menschheit beginnt zu wuchern wie die Seerose auf einem gezielt überdüngten Teich. Sie wissen, wie die Sache ausgeht, wenn der Teich bedeckt ist: Alles Lebendige stirbt ab, und schließlich auch die Seerose. Der raffinierte Kampf des Lebens gegen die Entropie-Vermehrung ist verloren und der Tod, die wahrscheinliche Unordnung, triumphiert.

Natürlich sind solche Instabilitäten im Laufe der Evolution immer wieder lokal vorgekommen. Nun aber ist die Katastrophe global. Der Teich ist unser ganzer Planet.

Sehen Sie um sich! Wenn wir die jetzigen Aktivitäten der Menschheit betrachten, finden wir fast nur Zerstörung, selbst wenn wir von den Kriegen absehen. Alle langsam gewachsenen Strukturen verschwinden und werden durch schnell und massenhaft produzierten Schund ersetzt, der, bald als Schund erkannt, zu Müllhalden aufgetürmt und immer schneller durch neuen Schund ersetzt wird. Selbst hier in Graz wird es schon sichtbar. Blicken Sie vom Schloßberg auf die rings umher hervorwuchernden quaderförmigen Betonklötze! Wie lange wird Ihre Altstadt widerstehen? Aber selbst wenn sie mit einigen Konzessionen wie den modernen öden Fensterhöhlen als Denkmal überdauern sollte – eine organische Struktur wird sie nicht bleiben, wenn Sie so weiterwirtschaften. Und Ihre Dörfer und Gehöfte haben Sie schon fast völlig vernichtet. Bald mag ich nicht einmal mehr in Ihren Gebirgen wandern gehen! Fast alle Pfade sind ersetzt oder brutal unterbrochen durch fünf Meter breite Forststraßen, die bald auch noch durch Betonmauern eingefasst werden müssen, weil anders die von ihnen ausgehende verwüstende Erosion nicht mehr zu stoppen sein wird. Und Ihre Almen, die für mich einmal zu den Kunstwerken zählten, sind nun Wellblechhütten. Die jahrhundertelange innige Wechselwirkung von Mensch und vormenschlicher Natur, die all die Schönheit der Kulturlandschaften allmählich wachsen ließ, ist ersetzt durch totale Herrschaft des Menschen und folglich – Zerstörung. Von den Autos und Flugzeugen und all dem anderen Zivilisationsplunder wie zum Beispiel den Kameras, die bei einem großen Hersteller intern „Filmverbrennungsmaschinen“ heißen, will ich hier gar nicht erst reden.

Aber nicht nur die Dinge, sogar die Menschen selbst werden zur Massenware. Die kulturelle Vielfalt wird ausgerottet. Wenn Millionen viele Stunden täglich das gleiche Fernsehprogramm anstarren, ja, wozu gibt es denn dann so viele Menschen? Reicht dann nicht auch einer? Mir selbst verleidet diese Vorstellung sogar die wenigen guten Sendungen so sehr, dass ich den Fernsehapparat längst abgeschafft habe.

Wer aber nicht bei der zerstörerischen Produktion mithilft oder sie wenigstens beim Totschlagen der Freizeit anheizt, der gilt als überflüssig. Arbeitsplätze werden am höchsten bewertet, wenn sie dazu dienen, besonders viele Rohstoffe möglichst schnell und unter Einsatz von möglichst viel Energie in Müll zu verwandeln. Dann ist der Beitrag zum Bruttosozialprodukt am höchsten. Was trägt dagegen schon ein Lehrer bei?! Deshalb entlässt man ihn. Das hab ich nicht nur in Bayern, sondern erst vor ein paar Wochen auch in Kalifornien erlebt. Dort gibt es auch die Einrichtung der Volksabstimmung, und das Volk hat abgestimmt, weniger Steuern zu zahlen. Nun wird zunächst an den Schulen gespart.

Jetzt werden Sie einwenden, ich sähe zu schwarz. Meinen „Kulturpessimismus“ gäbe es schließlich schon seit dem Aufbruch ins industrielle Zeitalter. Und trotzdem gehe es doch – abgesehen von einigen vorübergehenden Entartungserscheinungen – insgesamt immer noch voran zum Besseren. Das Neue sei schließlich doch meist mehr wert als das Alte.

Aber wie meinen Sie das eigentlich?

Sie wollen doch immer alles nach den sogenannten wirtschaftlichen Gesichtspunkten produzieren, das heißt: so billig wie möglich. Wie kann es dann mehr wert sein? Offenbar eben nur dadurch, dass Sie mehr und mehr davon produzieren. Das ist wie bei einem bösartigen Tumor: Das Mengenwachstum ist sein einziger Wert. Der hochdifferenzierte Organismus wird überwuchert und zerstört. Das Bruttosozialprodukt ist ein recht gutes Maß für dieses Krebswachstum, denn es zählt die Produktion von Schund, Abfall, Gift und Stress als positiv. Es misst gewissermaßen das Gewicht der Geschwulst. Aber welcher Krebskranke wäre wohl stolz auf die Gewichtszunahme seines Tumors?

Ich bitte Sie: Sehen Sie sich die biologischen, sozialen, kulturellen und seelischen Strukturen Ihrer Umgebung an und werten Sie nicht mit Preisen, sondern mit Ihrer Vernunft und Ihrem Schönheitssinn – also mit den Organen, die uns die Evolution gegeben hat, um Werte zu beurteilen. Dann werden Sie die bösartigen Wucherungen überall schaudernd entdecken. Ich möchte erreichen, dass Sie immer, wenn Sie die Worte „rationelle Massenfertigung“ hören, zusammenzucken und sie als beschönigende Bezeichnung für Krebs erkennen.






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Einige von Ihnen schauten recht kritisch bei meiner Aussage, totale Herrschaft des Menschen habe Zerstörung zur Folge. Vielleicht hatten Sie recht – wir sollten den Menschen nicht unterschätzen. Könnte er nicht auch zu friedlicher und fruchtbarer Herrschaft fähig sein? Was jetzt so zerstörerisch wütet ist die einseitige Herrschaft der ihre Macht genießenden menschlichen Produktionskraft unter dem Angebot zu billiger Energie. Nun muss ich also den Veranstaltern des Abends wehtun, die mich um eine wertfreie Darstellung des Kernenergie-Problems baten. Werturteile sollen ja für einen Wissenschaftler tabu sein, sie gelten sozusagen als obszön. Aber ich muss jetzt etwas ganz anstößiges sagen: Die angeblich so wertvolle Energie ist heute wertvernichtend. Sie nährt fast ausschließlich das Krebswachstum.

Von den Gesetzen der Evolution her betrachtet ist diese Tatsache nicht überraschend. Die Entdeckung der fossilen Energiequellen bringt das System des irdischen Lebens aus dem Fließgleichgewicht, das sich unter den Bedingungen konstanter Sonneneinstrahlung eingestellt hatte und in dem die Komplexität der lebendigen Ordnung ganz allmählich wachsen konnte. Mit seinen in hunderttausend Generationen entwickelten Verhaltensweisen schafft es der Mensch nicht, den zusätzlichen Energiestrom innerhalb weniger Generationen zum Nutzen des Lebens einzusetzen. Energie verleiht Macht, und der früher so nützliche Machttrieb des Menschen stirbt nicht plötzlich ab. Im Gegenteil: Der Mensch wird machtsüchtig, energiesüchtig. Die globale Instabilität setzt ein und wird schneller und schneller vorangetrieben. Glücklicherweise, möchte man sagen, geht nun das Öl – die Quelle, aus der sich die Instabilität jetzt vor allem speist – zur Neige, bevor der Organismus völlig zerstört ist. Aber die Sucht ist zu weit fortgeschritten. Wir nennen es die „Energiekrise“ oder den „Ölschock“ und halten verzweifelt Ausschau nach neuer Antriebskraft. Gerade in diesem Augenblick gelingt es der Wissenschaft, weitere fossile Energieträger zu erschließen, die schon bei der Entstehung des Kosmos und des Sonnensystems gespeichert wurden: Kernenergie. Der Trinker atmet auf: Es ist ihm gelungen, in eine Schnapsbrennerei einzuheiraten. – Wie soll die Entziehungskur aussehen?

Aber noch bevor wir diese Frage ernstlich stellen beginnt der Wachstumsabhängige schon Verwünschungen auszustoßen. Er ist gar nicht bereit die Diagnose zu akzeptieren. Seine letzten Kräfte aufbietend beweist er uns – scheinbar ganz nüchtern – dass wir irrationale Weltuntergangsprediger seien. Von Sucht könne gar nicht die Rede sein – „Sachzwang“ nennt er es. Die Selbstzerstörung will er nicht wahrhaben. Er sieht nur gewaltigen Fortschritt. Wenn eine Droge nicht mehr wirkt, so spricht er von „gesättigten Märkten“ und sieht eine „Innovationslücke“. Immer schneller geht er zu immer härteren Drogen über, begeistert über die immer kürzeren Innovationszeiten. Schließlich ist der Energiesüchtige bereit zur Hölle zu fahren, weil dort die Energie am billigsten ist. Und in der überlegenen Art euphorischer Alkoholiker redet er sich und uns ein, Wissenschaft und Technik werde es schon gelingen, die Hölle wohnlich zu machen.

Wie verführerisch ist dieser technische Fortschrittsglaube! Aber es ist ein Aberglaube. Er widerspricht den Gesetzen der Evolution.

Es ist wahr: Diese Gesetze sind nicht im wissenschaftlichen Sinne erwiesen und schon gar nicht in mathematisierter Form. Das darf uns aber nicht hindern, ihren wesentlichen Inhalt intuitiv – wenn auch vorerst nur stammelnd – zu erkennen. Wer über tiefere oder genauere Intuition verfügt möge mich korrigieren.

Ich behaupte wir können aus der Weltgeschichte vom Urknall bis zur gegenwärtigen Wachstumskrise folgende Schlüsse ziehen:






1.

Auf unserer Erde liegt die Front der Evolution nicht mehr im biologischen Bereich sondern bei den spezifisch menschlichen Fähigkeiten. Deshalb findet die weitere Evolution vor allem in unseren Entscheidungen statt. Das heißt: Wir sind verantwortlich für den Fortgang der Evolution.







2.

Evolution ist nur möglich, wenn an ihrer Front große innere Vielfalt gegeben ist. Wir brauchen also möglichst dezentralisierte Lebensformen der Menschheit. Aber wir sind auch eingebettet in das System des irdischen Lebens, das uns ja eben erst hervorgebracht hat. Unsere geistigen Fähigkeiten sind noch bei weitem zu niedrig entwickelt als dass wir uns über diese Basis erheben und unsere eigenen Werke auf ihre Kosten wuchern lassen dürften. Wir müssen also auch die Vielfalt der lebendigen Natur erhalten.







3.

Evolution ist nur möglich, wenn das Gesamtsystem langsam veränderlich ist im Vergleich zur Lebensdauer der Individuen an der Front. Deshalb muss natürlich auch die Front selbst ähnlich langsam – sagen wir „gemächlich“ – voranschreiten. Wir müssen also möglichst bald wieder einen quasi-stationären Zustand auf der Erde erreichen.






Wenn Ihnen diese drei Thesen einleuchten, so kommen sie um die Diagnose Sucht und Krebs nicht mehr herum. Das Wesen der nicht über uns, sondern mit uns hereingebrochenen Krise der Evolution besteht darin, dass die Gesetze 2 und 3 verletzt sind, also die Vielfalt und die Gemächlichkeit fehlen. Und die Ursache ist, dass wir bisher unsere Verantwortung noch nicht erkannt oder anerkannt haben.

Wenn an der Front nur die Vielfalt verkümmerte, so würde sie einfach von der vielfältigen Basis her überholt werden. Das war sicherlich ein ganz normaler, häufiger Vorgang während der biologischen Evolution. Wenn aber die Gemächlichkeit verloren geht, so setzt Krebswachstum ein. Es fehlt die Zeit zum Beurteilen von Werten durch Erproben in der Vielfalt. So können sich Scheinwerte durchsetzen und die Vielfalt überwuchern. Der uns beherrschende Scheinwert ist der Wahn, wir könnten durch Einsatz von mehr und mehr Energie immer mehr Materie organisieren. Da dies aber nicht in Eile möglich ist, desorganisieren wir statt dessen die Vielfalt an der Front und an der Basis. Wenn wir nicht sofort innehalten werden wir vermutlich nicht nur uns selbst vernichten, sondern auch noch das übrige Leben, unsere Quelle. Wir hinterlassen verbrannte Erde.

Warum aber sollte ein Krebs innehalten? Er hat seine bekannten eigenen Gesetze. Nur sehr selten scheinen spontane „Wunderheilungen“ vorzukommen. Dann wurden wohl unbekannte Abwehrkräfte mobilisiert. Zum Glück ist aber der Vergleich unserer Krise mit der Krebskrankheit in einem wesentlichen Punkt doch nicht ganz treffend. Krebs befällt fertige Organismen, deren biochemische Eigenschaften überwiegend schon im Bauplan festgelegt sind. Die ökonomisch-technische Wucherung hat dagegen ein offeneres System befallen. Falls sie nicht schon zu weit fortgeschritten ist haben wir vielleicht noch Chancen, selbst Abwehrkräfte zu mobilisieren.






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Fangen wir gleich an. Ich sehe nämlich schon auf vielen Gesichtern hoffnungsvollen Unglauben. Meine „Gesetze der Evolution“ widersprechen doch so offensichtlich dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt – da muss ich einen Fehler gemacht haben!

Warum zum Beispiel nehme ich im 3. Gesetz an, die menschliche Lebensdauer sei die relevante Zeitskala? Die Evolution ist eben schon über den Menschen hinaus gegangen! Computergenerationen folgen viel schneller aufeinander als Menschengenerationen, und neue Rechenprogramme lassen sich sogar noch schneller entwickeln! Die Evolution hat längst eine neue Front eröffnet! Die biologischen Arten sollen ruhig verschwinden! Als letzte der Mensch! Und andere, über die von uns geschaffene weit hinausgehende Organisationsformen der Materie werden die Führung übernehmen! Der Verlust des technischen Fortschrittsglaubens ist nur eine kindische, emotionale Regung, ein den Egoismus der Gene spiegelndes Sich-sträuben gegen die Höherentwicklung über uns selbst hinaus! Diese höhere Lebensform wird ja nicht einmal an unsere Erde gebunden sein! Soll diese ruhig verbrennen! Die Technik wird den Weltraum erobern! Evolution ohne Expansion ist nicht möglich! Nur keine Angst vor Grenzen – es gibt keine! Seid fruchtbar und mehret euch und machet das Weltall euch untertan!

Jemand sagte: Computer sind schrecklich dumm, sie können nur Ja und Nein sagen – das aber ungeheuer schnell. Mag sein, dass dies letzten Endes auch für das menschliche Gehirn gilt. Aber es besteht kein Zweifel, dass dieses allen Computern noch unendlich überlegen ist. Das sieht man zum Beispiel daran, dass selbst die dümmsten Menschen noch zu Emotionen gegen Computer fähig sind, aber nicht umgekehrt. Nur, bitte, keine Ehrfurcht vor unseren einfältigen Maschinen! Ehrfurcht vor dem Leben ist es, was wir brauchen.

Lassen Sie sich also nichts weißmachen! Ich bleibe dabei: Wenn wir während der Lebensdauer des Einzelmenschen zu große Änderungen verursachen, so bauen wir zwangsläufig mehr lebendige Ordnung ab als auf. Dagegen kann der wissenschaftliche Fortschritt nichts helfen. Die Technologen, die ihn anwenden, benehmen sich wie die Zirkusclowns, die durch abwechselndes Sägen an den vier Beinen eines Tisches dessen Wackeln begegnen wollen. Mehr und mehr von uns, die wir an diesem Tische liegen, spüren die Folgen: Unsere Basis, das unübersehbar vielfältige System des gesamten irdischen Lebens, wird abgebaut. Viel zu komplex ist dieses System, als dass wir durch Einsatz unserer geringen wissenschaftlichen Erkenntnisse es fördern könnten. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem gezielten Eingriff das Ziel zu verfehlen, ist überwältigend groß. Deshalb ist klar, dass die Anwendung von Wissenschaft schon bisher mehr Schaden als Nutzen angerichtet haben muss. Beschleunigte Anwendung wissenschaftlichen Fortschritts kann dies nur verschlimmern.

Mit diesen Aussagen stoße ich, wie Sie sich denken können, bei anderen Wissenschaftlern auf wütenden Protest oder wortlose Verachtung. Die meisten hören freilich nicht einmal zu, weil sie mit der Forderung noch schnellerer Innovation und noch rationellerer Massenproduktion voll ausgelastet sind. Doch selbst wenn es ihnen dabei zuweilen gelingen mag, den Krebs etwas weniger chaotisch wuchern zu lassen und ein bisschen Ordnung zu produzieren, kann es doch wegen der Schnelligkeit nur die einfältige Ordnung des Kristalls werden, nicht die vielfältige des Lebens.

Wie aber steht es mit meinem 2. Gesetz? Kennen wir nicht die Folgen der Vielfalt in der Menschheit zur Genüge? Führt nicht gerade sie zum ständigen Kampf und zu noch gewaltigerer Zerstörung im Krieg?

Diese Erfahrung spricht aber nicht gegen die Vielfalt, sondern gegen Machtanspruch und Gewalt. Die Evolution darf eben nicht mehr auf dem Niveau von technischer, ökonomischer oder militärischer Macht stattfinden. Was in diesem Kampf ums Dasein siegt, ist eben nicht besser, denn hier ist wiederum das 3. Gesetz, die Forderung nach Gemächlichkeit, verletzt. Gegen den Krieg ist also nicht die Abschaffung der Vielfalt durch bürokratische Zentralgewalt – also Einfalt – das rechte Mittel, sondern das in jedem Einzelnen und jeder Gemeinschaft allmählich wachsende Bewusstsein der eigenen Verantwortung für das Einhalten der Gesetze der Evolution in dem neuen Stadium, in das sie mit der Entwicklung unserer Fähigkeiten getreten ist. Damit widerspreche ich natürlich nicht der Notwendigkeit einer losen globalen Zusammenarbeit und einer Art Polizei gegen Rückfälle.

Sie haben nun vermutlich genug von meinen theoretischen Erörterungen und werden fragen: Selbst wenn er recht hätte – was sollen wir denn tun? Gibt es denn Alternativen?

Vieles, was ich hier sage, stammt aus meiner Erwiderung auf einen Vortrag, den der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker im Frühjahr 1978 vor den führenden Leuten in Bonn hielt, und der in der Wochenzeitung DIE ZEIT sowie an verschiedenen anderen Stellen abgedruckt wurde. Er kam den Kernkraftwerksbetreibern so gelegen, dass sie ihn massenhaft und kostenlos als Informationsmaterial verschickten. In seinem Vortrag schilderte Herr von Weizsäcker recht anschaulich einige unserer Probleme mit dem Wachstum, kam dann aber zu dem merkwürdigen Schluss, dass wir so weitermachen müssen. – Hören wir ihn:

„Der Weltmarkt hat noch ein unbegrenztes Wachstumspotential. Wachsen wir nicht, so geht unser Anteil an ihm zurück, und das bedeutet für uns faktisch eine Stabilitätskrise.“

Erkennen Sie die Krebs-Parolen? So also spricht der Tumor angesichts der Metastasen, die er ausgesät hat, und die ihm nun einen Teil des Organismus streitig machen. Herr von Weizsäcker scheint den Krebs-Charakter der globalen Instabilität noch gar nicht erkannt zu haben. Er findet für sie nur das beschönigende Wort „Nötigung zum Wachstum“. Umso mehr Angst hat er vor den Veränderungen, die notwendig wären, um Abwehrkräfte zu mobilisieren. Er nennt sie „faktische Instabilitäten“.

Mir scheint es aber ganz selbstverständlich, dass wir Europäer als erste die Pflicht haben, der globalen Instabilität entgegenzuarbeiten – denn bei uns fing sie an und ist sie am weitesten fortgeschritten. Und um dieser Pflicht zu genügen müssen wir auf hergebrachte „Marktanteile“ verzichten. Anteile auf dem Weltmarkt der Instabilitätsforderung und ihrer Abfallprodukte sind nicht mehr erstrebenswert! Nach ihnen zu streben ist im Sinne der soeben formulierten Gesetze kriminell. Ich meine nicht, dass wir Europäer unmoralischer waren als andere; wenn nicht wir als erste dem Wachstumswahn verfallen wären, so wäre er wohl wenige Jahrhunderte später anderswo ausgebrochen. Die Krise ist sozusagen in die Evolution eingebaut. Aber im primären Herd wird die Krankheit am frühesten erkannt, und dort mobilisiert sie noch die stärksten Abwehrkräfte.

Die Veranstaltung des heutigen Abends ist für mich ein Teil des Abwehrkampfes. Wie heftig dieser wird sehen sie an der seit einigen Jahren rapide anwachsenden Literatur über die Grenzen des Wachstums und alternative Technologien und Lebensformen.






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Wie also fangen wir es an, den Wachstumswahn zunächst bei uns selbst zu brechen? Es ist klar, dass gewaltige Widerstände von allen Seiten zu erwarten sind. Die gesamte „Ausbeuterklasse“ wird über uns herfallen, um ihre echten oder eingebildeten Privilegien zu verteidigen. Mit „Ausbeuterklasse“ meine ich natürlich unsere ganze Gesellschaft; Kapital und Arbeiter haben sich ja verbündet, den Organismus der Natur auszubeuten. Marx hatte schon recht mit seiner Verelendungstheorie – wenn er auch diese Akzentverschiebung noch nicht klar voraussah: Die Natur verelendet, und mit ihr die menschliche Seele. Und wohl auch Gott, der sich in ihr entwickeln wollte.

Aber haben Sie keine Angst, sich von den Verteidigern des laissez-faire als weltfremde Schwärmer oder besessene Querulanten beschimpfen zu lassen! Und glauben Sie nur nicht den Vorhaltungen, Sie seien nicht sachverständig genug! Vielen unserer Kinder, die aus der von der Ökonomie beherrschten Irrsinnsgesellschaft austreten oder gar nicht erst in sie eintreten wollen, haben die Sache ganz intuitiv verstanden. Die Front der Evolution muss von unseren ökonomisch-technischen zu unseren seelisch-geistigen Fähigkeiten verschoben werden. Die in der Tat notwendige Expansion muss nach innen gehen. Dort ist Raum für fast unendliches, vielfältiges, gemächliches Wachstum. Wir wollen nicht mehr Produktivität bewundern, sondern Kreativität; nicht mehr Macht, sondern Kunst; wir wollen nicht so viel haben, sondern mehr sein. Vor allem aber dürfen wir nicht so billig haben wollen.

Dann brauchen wir zum Beispiel auch unsere Metastase Japan nicht mehr zu fürchten. Der Welthandel wird beträchtlich abnehmen und die kulturelle Vielfalt wieder wachsen. Wir werden uns viele Dinge wieder lieber selbst herstellen oder vom Nachbarn kaufen, und auf unsere Eigenheiten stolz sein.

Zur Illustration muss ich Ihnen noch von einer Anzeige der deutschen Kraftverkehrsunternehmer erzählen, die kürzlich in vielen großen Zeitungen und Zeitschriften zu sehen war. Vielleicht kennen Sie Brummi, die dicke, freundliche Sprechblasenfigur dieser Branche, die der Bevölkerung klarzumachen hat, wie gut es ihr mit den vielen Lastwagen auf den Straßen geht. In der Anzeige kam der Besitzer einer Großbäckerei in Gütersloh zu Wort: „Wenn ich von Gütersloh aus die ganze Bundesrepublik mit frischem Brot versorgen will, dann muss das gehen wie‘s Brezelbacken! Dank Brummi...“ und so weiter. Ich dachte erst, es sei eine Satire. Aber nein, es war ein echtes Krebs-Symptom. Ein paar Tage später macht die letzte Bäckerei in unserer Nachbarschaft zu, und ein neues Autobahnstück hüllt uns Tag und Nacht in Sausen und Brausen.

Kennen Sie übrigens Ivan Illichs Autorechnung? Wie lange müssen Sie arbeiten, um die gesamten Kosten zu verdienen, die Ihr Auto pro Kilometer verschlingt? Diese Zeit für einen Kilometer plus der Zeit, die Sie brauchen, um diesen Kilometer zu fahren, ergibt eine Geschwindigkeit; Sie werden sehen: Sie hätten auch Rad fahren oder gar zu Fuß gehen können. – Und noch ein schönes Wort, von Ulli Harp [?], zur angeblich schon hinter uns liegenden Abschaffung der Sklaverei: Sisyphus hat es heute leichter, der Stein wird jetzt vollautomatisch hochgezogen. Er muss nur noch hinterherrennen.

Werden wir auf wirklich wertvolles verzichten müssen? Nein. Und ganz sicher braucht niemand Hunger und Armut zu leiden. Übrigens verzichten wir heute auf fast alles Wertvolle, wie Sie an der rapide anwachsenden Zahl seelischer Krankheiten ablesen können. Und wenn Sie noch über den eigenen Bauch hinaussehen können, werden Sie auch zugeben, dass Dank dem von uns, der Menschheit, bescherten Fortschritt heute mehr Hungernde und Arme auf der Welt leben und sterben als je zuvor. Dieses Problem wird aber nicht von mächtigen Zentralregierungen mit Riesenkraftwerken, Landverdrahtung, Massen von Chemikalien und dergleichen gelöst werden, sondern durch unsere Unterstützung von Initiativen in Stadt- und Dorfgemeinschaften, durch dezentrale Nutzung von Sonnenenergie, Hege der Landschaft und Pflege des Bodens.

Ich habe nichts gegen Kernenergie – wenn sie von der Sonne kommt. Diese liefert uns ja selbst in Mitteleuropa im Durchschnitt etwa 120 Watt pro Quadratmeter. Das ist im Durchschnitt über alle Wetterbedingungen, Tag und Nacht und Jahreszeiten. Und nicht zu vergessen: Dieses „Kernkraftwerk“ ist zugleich seine eigene Aufbereitungsanlage und Endlagerstätte. Die Menschheit muss möglichst bald die Entscheidung treffen und dann stetig darauf hin arbeiten, dass sie in wenigen Generationen zur ausschließlichen Nutzung von Sonnenenergie zurückkehrt. Alle anderen Energiequellen würden auf die Dauer zerstörerisch wirken und sind mit dem für weitere Evolution anzustrebenden quasi-stationären Zustand nicht verträglich. Diese Entscheidung für die Sonnenenergie darf aber nicht von einer utopischen Menschheitsregierung erwartet werden – wir müssen sie treffen und in Gemeinschaft mit den sonnenreichen armen Ländern verwirklichen.

Lassen Sie mich hier einfügen, dass ich unter Sonnenenergie alles das mitzähle, was auch indirekt durch die Sonne geliefert wird. Dazu gehört also selbstverständlich auch die Wasserkraft und die Windkraft und dergleichen.

Der Primärenergieverbrauch in den USA beträgt heute etwa 10 Kilowatt pro Person. Das entspricht der körperlichen Arbeitsleistung von 100 Sklaven. Obwohl der größte Teil dieser Leistung vergeudet wird oder das Krebswachstum nährt, wollen die Wirtschaftsstrategen diese „Wohltat“ der ganzen Menschheit zuteil werden lassen. Nun stellen Sie sich einmal die voll auf Kernenergie gegründete Menschheit vor! Die ungeheuer vielen Reaktoren und Reaktor-Ruinen, Aufbereitungsanlagen, Endlagerstätten, das ständige Hin-und-her-transportieren gefährlichster Stoffe, die man zum Teil für zehntausende von Jahren unter absolut sicherer Kontrolle halten muss! Welche technischen und gesellschaftlichen Sicherheitsvorkehrungen wird das nötig machen! Und doch bliebe es auch bei größter Anstrengung immer eine instabile Situation. Wenn ich daran denke, sehe ich eine riesige Maschine vor mir. Mag sein, sie ist ganz leise und glänzend sauber, aber sie steht auf der Spitze eines Kegels, und rings umher stehen wir alle, wohlgeordnet durch ein strenges Regiment, und stützen sie unter Aufbietung aller Kräfte; wenn auch nur einer von uns loslässt kann sie herunterfallen und uns alle zermalmen oder verbrennen oder alles Leben vergiften. So können wir nie wieder loslassen. Jeder von uns wäre also gewissermaßen sein Leben lang an die Aufgabe gekettet, seine hundert Sklaven zu bewachen und zu verwalten.






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Noch haben wir die Chance, diesen Irrsinn abzuwenden. Und Sie haben sogar den Vorzug, direkt dazu gefragt zu werden. Wenn es Ihnen schwer fällt, die in Zwentendorf investierten 8 Milliarden Schillinge zu verschmerzen, so rechnen Sie sich aus, welchen Teil des jährlichen Zigaretten- und Alkoholkonsums diese Summe darstellt. Selbstverständlich müssen ja diese Verluste von der ganzen Gesellschaft getragen werden, die ja auch am Wachstum profitieren wollte. Im Vergleich zu den anderen Schäden, die der Krebs in der Gesellschaft und der Ökosphäre bereits angerichtet hat, zum Beispiel durch unseren chemischen Großeinsatz gegen die Natur, und die wir zu reparieren versuchen müssen, ist übrigens diese Summe lächerlich gering.

Wir werden also hart arbeiten müssen, um die Wunden zu heilen, die wir uns selbst und der Umwelt schon geschlagen haben. Aber diese Arbeit wird Freude machen, weil sie nicht zerstört, sondern dauerhafte Werte schafft. Hier liegt auch die wichtigste Aufgabe der Natur- und Geisteswissenschaften. Ihnen werden zum Beispiel die Fragen gestellt: Wie ist Heilung überhaupt noch möglich? Welche Eingriffe sind nötig, und wie können wir die damit verbundenen Nebenwirkungen und Schmerzen möglichst gering halten? Wie müssen wir die politischen Systeme modifizieren, die jetzt überall auf der Welt Gier und Dummheit zu viel Macht überlassen? Nicht, dass Gier und Dummheit abgeschafft werden könnten – aber wir dürfen ihnen nicht die Herrschaft in die Hand geben. Sie sehen: Ich will Sie zu Verfassungsfeinden machen!

Das Dilemma ist offensichtlich: Die globale Entartung der Evolution ist so weit fortgeschritten, die Instabilität hat schon so viel Schwung gesammelt, dass wir nicht ruckartig anhalten können. Beim Bremsen wird der Schwung in Reibungswärme umgesetzt, und Hitze ist Unordnung. Wie also finden wir zur Achtung der Evolutionsgesetze zurück, ohne unsere Welt in Flammen aufgehen zu lassen? Die Wissenschaft, die uns zu Gesetzesbrechern werden lassen musste, muss uns auch helfen, durch weitere, nur allmählich „mildere“ Gesetzesbrüche zum Gesetz zurück zu finden. Denn um ohne Ruck in den erwünschten Zustand des Fließgleichgewichts zu finden müssen wir für mindestens einige Jahrzehnte auch weiterhin das wichtigste Gesetz verletzen: Wir können uns nicht die an sich notwendige Zeit lassen, um das in den letzten Jahrhunderten gewachsene Geschwür zu heilen oder abzukapseln oder herauszuschneiden. Hier das richtige Maß zu finden wird sehr schwierig sein. Eine Hoffnung sehe ich in den noch erhaltenen Resten kultureller und zivilisatorischer Vielfalt.

Sie sehen: Ich predige nicht das Ende der Wissenschaft. Zum Beispiel würde Ihnen die von Ihnen geforderte Entscheidung über das Kraftwerk Zwentendorf sicher leichter fallen, wenn Ihre Wissenschaftler schon eine gründliche Untersuchung geliefert hätten, wie Österreich ohne Kernenergie auskommen kann und wie viel Energie Sie überhaupt zu welchen Zwecken brauchen. Ich frage nicht nach Prognosen, denn die Prognose von Krebs ist bekannt. Ich meine die Diskussion wünschenswerter Lebensformen. Für die Schweiz und Schweden gibt es schon Studien, die zeigen, wie es sich ohne Kernenergie leben lässt. Österreich kann das selbstverständlich auch, und zwar ohne die dann angeblich notwendige Verbauung der letzten ursprünglichen Flusslandschaften. Bringen Sie doch einmal so viele Wissenschaftler, wie jetzt in der nuklearen Großforschung arbeiten, dazu, über die technisch, ökologisch und soziologisch besten Wege der Sonnen- und Bodennutzung nachzudenken und zu experimentieren! Sie würden eine Menge überraschend einfacher und schöner Lösungen finden, die übrigens gerade auch der Initiative kleiner Unternehmer viel Raum bieten sollten. Lassen Sie aber nicht die Ökonomen Macht auch über die Alternativen gewinnen! Selbstverständlich kann man auch mit Sonnenenergie den Krebs weiter nähren und die Erde mit Schund überziehen.

Wenn Sie sich informieren wollen, wie viel in den letzten Jahren schon über Alternativen nachgedacht wurde, so lesen Sie doch zunächst einmal E. F. Schumachers Small is Beautiful. A Study of Economics as if People Mattered – auf deutsch bei Rowohlt unter dem Titel Die Rückkehr zum menschlichen Maß – und Amory Lovins‘ Soft Energy Paths, herausgegeben von den Friends Of The Earth – auf deutsch bei Rowohlt ebenfalls, unter dem Titel Sanfte Energie. Der Name Soft Path oder Sanfter Weg – als Gegensatz zum harten Weg der zentralistischen Technokratie – scheint sich nun als Schlagwort für die auch von mir angedeuteten wünschenswerten Entwicklungen durchzusetzen. Zwentendorf wäre der richtige Ort für ein Institut zur Erforschung des „sanften Weges“ für Österreich. Das Kraftwerk selbst, das ja auch wegen der Sicherheitsaspekte nicht in Betrieb gehen sollte, stellen Sie am besten unter Denkmalschutz. Denken Sie mal, wie gut es für ein „Wachstumsmuseum“ geeignet wäre! Alle österreichischen Schüler müssten einmal dort hin eingeladen werden. Vielleicht auch die Unternehmer.

Ich hoffe Ihnen klargemacht zu haben, dass es nicht genügt, Nein zur Kernenergie zu sagen. Der Fortschritt muss neu definiert werden. Die ihn jetzt verkünden sind nicht auf seiner Seite. Sie müssen sich neue Anführer suchen, die Sie auf den „sanften Weg“ führen. Sie können nicht einfach Nein sagen und im übrigen so tun als sei nichts geschehen, als könne man so weiter wursteln wie bisher. Das Nein muss Folgen haben – in Ihrem privaten und politischen Leben. Es ist eine Umkehr, eine Bekehrung. Sie übernehmen Verantwortung – für die Zukunft, gegen die Einfalt, für die Vielfalt. Und wenn Sie mehr Bildung oder Talente besitzen als andere, so folgen Sie bitte nicht der allgemeinen Ansicht, Sie müssten damit Privilegien erwerben. Warum kommen Sie nicht auf den Gedanken, es vergrößerte Ihre Verantwortung?

Mein Namensvetter Franz Kafka schrieb einmal in sein Tagebuch: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen ist Zögern.“ – Diese Sehnsucht nach dem Absoluten, dem wir uns nur hinzugeben bräuchten, um Frieden zu finden, ist uraltes menschliches Erbe. Dennoch würde, glaube ich, Kafka heute den Spruch umwenden: „Es gibt einen Weg, aber kein Ziel. Was wir Ziel nennen ist Einbildung unserer Ungeduld.“ – Ein Ziel der Evolution kennen wir nicht, sie ist offen. Aber wir müssen und können ihr einen Weg bauen, auf dem sie über die Krise – die erste Zehntelsekunde des neuen Jahres in unserem Zeitrafferfilm – hinwegkommt. Erforschen wir ihre Gesetze, und wir werden sehen: Es ist der „sanfte Weg“, vorwärts zur Natur.