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Kernfragen:
Wirtschaftswachstum und Energiepolitik
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Variationen
über das Thema „Einfalt und Vielfalt“ –
Das Wesen der globalen Beschleunigungskrise. – Diesen
Vortrag hielt Peter Kafka am 13. Oktober 1978, kurz vor der
Volksabstimmung über die Betriebsgenehmigung des
Kernkraftwerkes Zwentendorf, vor steirischen Unternehmern in der
Grazer Industrie- und Handelskammer.
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AUDIO
(YouTube)
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Meine
Damen und Herren!
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Sie
sollen demnächst über die Betriebsgenehmigung für
das erste österreichische Kernkraftwerk in Zwentendorf
abstimmen, und ich bin deshalb zu Ihnen gekommen, um Emotionen
gegen Kraftwerke zu wecken oder zu schüren. Die von einem
Wissenschaftler erwartete wertfreie Betrachtung kann ich
Ihnen nicht bieten – aber an Wertlosem herrscht ja ohnehin
kein Mangel. Auch die Kernkraftwerke werden allerdings in meinem
Vortrag nur am Rande erwähnt werden. Ich möchte nämlich
versuchen, Ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir
nicht so sehr in eine Energiekrise im landläufigen Sinn
geraten sind, als vielmehr in eine Krise der Evolution des Lebens
und des menschlichen Geistes. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich
„Bewusstsein schärfen“ und „Emotionen
wecken“ fast in einem Atem sage? Ich meine, unsere
Emotionen sind bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte den
möglichen Berechnungen weit überlegen. Sie sind
sozusagen das empfindlichste Sinnesorgan unseres Bewusstseins.
Was wir in Zahlen fassen können ist kaum der Rede wert.
Mathematisierung ist erfolgreich in so simplen Dingen wie Physik;
wenn wir aber über Menschen und ihre Gesellschaft sprechen
sind nur die allerunwesentlichsten Dinge Berechnungen zugänglich.
Die Behauptung, wir seien in den Wissenschaften erwachsen
geworden, emotional aber Kinder geblieben, stellt die Wahrheit
auf den Kopf. Der modische Trend zur Mathematisierung und
Computerherrschaft ist ein Zeichen von Infantilismus. Sie haben
vielleicht auch einmal beobachtet, dass Kinder, wenn sie die Idee
der Zahl entdecken, vom Zählen wie besessen sind und
einander immer noch darin übertrumpfen wollen. In einem
verwandten Zustand befinden sich anscheinend die meisten Ökonomen
und Politiker – leider auch viele Wissenschaftler.
Jeder
Gymnasiast weiß, dass schon einer sogenannten komplexen
Zahl nur ein Wert zugeordnet werden kann, wenn man zum Beispiel
verabredet, dass ihre beiden Komponenten auf gleiche Weise
gewichtet werden. Unsere Anführer aber dürfen, ohne
durchzufallen, den Erfolg eines Landes oder der Menschheit mit
einer einzigen Zahl, dem Bruttosozialprodukt, bewerten. Noch
immer wird ihnen von den Wachstumsbesessenen eingetrichtert: Wenn
das reale Bruttosozialprodukt nicht wächst, so geht es uns
schlechter. Überlegen Sie einmal, was das heißt! Das
reale Bruttosozialprodukt soll ja ein zusammenfassendes Maß
aller unserer Tätigkeiten sein. Wenn es gleich bliebe,
sollte es uns also mindestens gleich gut gehen. Geht es uns bei
gleichbleibendem Sozialprodukt schlechter, so beweist dies, dass
unsere Tätigkeiten im Durchschnitt unserem Wohlergehen mehr
schaden als nutzen. Also sollten wir doch nicht mehr vom
Gleichen tun, sondern weniger. Angesichts der stets
behaupteten Beziehung zwischen wachsendem Bruttosozialprodukt und
steigendem Energieverbrauch weckt dies den Verdacht, dass wohl
auch der Energieverbrauch sinken muss, damit es uns besser
geht.
Worüber lachen Sie? Das ist keine polemische
Pointe, sondern Logik! Lachen Sie doch bitte endlich über
die Wirtschaftsminister, die Ihnen noch immer das
Bruttosozialprodukt als Wertmaßstab präsentieren und
sein Wachstum um soundso viele Prozent als Jahresziel
verordnen!
Fragen wir also: Können wir überhaupt
Werte beurteilen? An welchen Maßstäben messen wir? Und
wie wichten wir? Das heißt: Wie wägen wir verschiedene
Werte gegeneinander ab? Oder: Sollen wir angesichts der
Schwierigkeit von Werturteilen einfach auf sie verzichten und
darauf vertrauen, dass der Liebe Gott oder Mutter Natur oder die
freie Marktwirtschaft schon alles recht machen werden?
Schließlich sind sich ja fast alle darüber einig, dass
wir es ziemlich weit gebracht haben. Und offenbar ist es doch im
Durchschnitt während der letzten Jahrhunderte – ja
auch Jahrtausende und Jahrmillionen – stets aufwärts
oder vorwärts gegangen, und dabei scheinen
Betrachtungen über Werte kaum eine Rolle gespielt zu haben.
Was im „Kampf ums Dasein“ siegte, ist eben
wertvoll.
Sollen wir also einfach alles weiterlaufen
lassen?
Bevor wir hierauf antworten sollten wir aber einen
etwas schärferen Blick auf die Vergangenheit werfen.
Vielleicht lässt sich doch etwas mehr aus ihr lernen. Und
weil ich Astrophysiker bin kann ich es mir nicht verkneifen, mit
dem Anfang der Welt zu beginnen. Da nun einmal das
wissenschaftliche Weltbild der unserem Bewusstseinszustand
angemessene Aberglaube ist, lassen Sie mich mit wenigen Sätzen
durch die Weltgeschichte springen, wie sie sich den
Wissenschaftlern darstellt.
Wir wissen ja heute, dass
unsere Welt – das heißt alles, was wir sehen oder
erfahren – nicht im Gleichgewicht ist, sondern sich aus
einem extrem einfachen Anfangszustand zu immer höherer
Komplexität entwickelt hat. Und der Schöpferdrang, der
diese Entwicklung vorantreibt, lässt sich vielleicht als
Folge der Anfangsbedingungen sowie der Gesetze der Physik und
Wahrscheinlichkeitstheorie begreifen.
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Drängen wir die
Geschichte des Universums auf ein Jahr zusammen. Stellen Sie sich
vor: Es ist Silvesternacht und wir erwarten den Gong, der das
neue Jahr ankündigt. Genau vor einem Jahr möge unsere
Welt im sogenannten Urknall entstanden sein. Dann steht jeder
Monat in unserem Bild für etwa eine Milliarde Jahre. Und nun
erinnern Sie sich:
Vor genau einem Jahr war alles, was wir
jetzt vom Universum sehen, ganz dicht bei uns, vielleicht in
einem einzigen Punkt mit uns. Der Urstoff – eine Strahlung,
die den ganzen Raum gleichmäßig und mit ungeheuerer
Dichte und Temperatur erfüllte – besaß noch
keinerlei Struktur. Aber durch den Schwung der geheimnisvollen
Urexplosion dehnt er sich seither überall gegen seine
Schwerkraft aus und kühlt sich dabei ab. Nun erzwingen die
Naturgesetze – was immer das ist – und die Regeln der
Statistik die Entstehung und Entwicklung von Strukturen. Schon in
einem winzigen Bruchteil der ersten Sekunde des 1. Januar
entsteht die Materie, die Elementarteilchen, und gleich darauf
die einfachsten Atomkerne – Wasserstoff und Helium. Bei der
weiteren Ausdehnung und Abkühlung nimmt die Dichte dieser
Materie langsamer ab als die der Strahlung, und so gewinnt
irgendwann am 1. oder 2. Januar die Materie die Oberhand. Erst
als die Temperatur unter einige Tausend Grad gesunken ist beginnt
die Materie unter ihrer eigenen Schwerkraft Klumpen zu bilden. So
entstehen noch vor Ende Januar die Galaxien, und in diesen die
ersten Sterngenerationen. Nun brauen die Sterne in ihren
zentralen Atomreaktoren die höheren chemischen Elemente.
Sterbende Sterne reichern das sie umgebende Gas damit an, zum
Teil auch in Staubform. Die Gesetze der Kernphysik sorgen dafür,
dass Kohlenstoff besonders häufig wird. Atom- und
Molekülphysik bewirken, dass auf Staubkörnern in der
Nähe von Sternen mittels derer ultravioletter Strahlung
bereits komplizierte organische Moleküle gebildet werden.
Radioastronomen haben in den letzten Jahren mehr und mehr davon
entdeckt.
Nun ist also schon mehr als das halbe Jahr
vergangen, da entsteht Mitte August aus einer zusammenstürzenden
Wolke von Gas und Staub unser Sonnensystem. Schon am
ersten Tag ist die Sonne etwa in ihrem heutigen Zustand und
versorgt ihre Planeten mit einem ziemlich konstanten
Strahlungsstrom von etwa 6000 Grad Temperatur. Im Erdabstand
bedeutet das eine Leistung von etwa 1,3 Kilowatt pro Quadratmeter
(wir kommen darauf zurück). Da der übrige Himmel dunkel
und kalt ist kann die Erde die so empfangene Energie bei viel
tieferer Temperatur wieder abstrahlen. Nach statistischen
Gesetzen, für deren teilweise Erforschung Ilya Prigogine
letztes Jahr den Nobelpreis erhielt, möchten sich dabei auf
der Erde Zustände einstellen, in denen möglichst
kompliziert geordnete Strukturen entstehen, oder – mit
einem Fachausdruck – in denen die Entropie-Erzeugung
möglichst klein ist. Unter den gegebenen physikalischen
Gesetzen erzwingt dies nun erst chemische, dann biologische,
schließlich kulturelle Evolution – immer nach Darwins
Regeln durch Konkurrenz in der Vielfalt.
Von Mitte
September stammen die ältesten Gesteine der Erdoberfläche,
von Anfang Oktober stammen die ersten erhaltenen Lebensbeweise:
Fossilien von Algen. Mehr als zwei Monate lang entwickeln sich
nun Pflanzen und Tiere in den Gewässern. Die ersten
Wirbeltier-Fossilien stammen vom 16. Dezember. Am 19. Dezember
erobern die Pflanzen die Kontinente, und Fische bilden
Kieferknochen. Am 20. Dezember sind die Landmassen mit Wald
bedeckt und das Leben schafft sich selbst eine sauerstoffreiche
Atmosphäre. Nun wird das ultraviolette Licht zurückgehalten,
sodass noch komplexere und empfindlichere Formen des Lebens
möglich werden.
Am 22. und 23. Dezember, während
sich unsere Steinkohlelager bilden, entstehen aus Lungenfischen
amphibische Vierfüßler und erobern feuchtes Land. Aus
ihnen entwickeln sich am 24. Dezember die Reptilien, die auch das
trockene Land besiedeln. Am 25. Dezember wird das warme Blut
erfunden. Spät abends erscheinen die ersten Säugetiere,
aber für die nächsten zwei Tage führen sie noch
ein Kümmerdasein neben den Sauriern: In Nischen, verborgen
vor den Mächtigen, wird die Intelligenz vorbereitet.
Am
27. Dezember entwickeln sich aus den Reptilien auch die Vögel,
am 28. und 29. übernehmen sie gemeinsam mit den Säugetieren
die Macht von den aussterbenden Drachen. In der Nacht zum 30.
beginnt die noch andauernde Auffaltung des Gebirges Ihrer Heimat,
die seitdem im Erdbebengürtel liegt.
Bis
jetzt ist die biologische Information stets im Wesentlichen in
den sogenannten Genen, das heißt in Nukleinsäuremolekülen
gespeichert. Erst ab 30. Dezember wird die Speicherung in
größeren Eiweißstrukturen wie Gehirne benutzt,
um diese genetische Fixierung zu ergänzen: Das Lernen wird
wichtig, Seele und Geist können sich entwickeln.
In
der Nacht zum 31. Dezember – vergangene Nacht! –
entspringt der Menschenzweig dem Ast, der zu den heutigen
Menschenaffen führt. Nun bleibt uns ein Tag, um uns
selbst zu entwickeln. Mit etwa 20 Generationen pro Sekunde
scheint dies nicht schwierig, aber unser Werdegang ist dürftig
dokumentiert. Erst von etwa 10 Uhr am Silvesterabend stammen die
Skelettreste der Oldoway-Schlucht in Ostafrika. Fünf
Minuten vor Zwölf leben die Neandertaler. Ihre Gehirne sind
schon vergleichbar den unseren. Zwei Minuten vor Zwölf
sitzen wir ums Feuer, stammeln und winseln und klatschen
rhythmisch in die Hände, bemalen die Wände unserer
Höhlen mit Bildern unserer Beutetiere und tun Waffen oder
Honig und Körner in die Gräber unserer Väter. Die
Blütezeit der Sprachen und damit der Kulturen bricht
an.
Seit 15 Sekunden wird die
Geschichte Chinas und Ägyptens überliefert. Fünf
Sekunden vor Zwölf wird Jesus Christus geboren. Eine Sekunde
vor Zwölf beginnen die Christen gerade mit der Ausrottung
der amerikanischen Kulturen. Was glauben Sie, wie viele Tier- und
Pflanzenarten wir heute jeden Tag ausrotten?
Oh
– da ist schon der Gong! Hier sind wir im neuen Jahr! Was
wird es bringen?
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In
unserem Bild wurde besonders deutlich, wie zum Schluss alles
immer schneller geht. Die Geschwindigkeit hat schon etwas
komisches – als liefe der Film schneller und schneller.
Also liegt es nicht am Zeitraffer. Noch bevor in der Glocke, die
das neue Jahr einläuten soll, der Klöppel die Wand
trifft und den ersten Ton erzeugt, werden wir alles Öl
verpufft haben, das uns die Sonne während der letzten Wochen
speichern half. Noch immer wächst die Erdbevölkerung
nach einer mathematischen Formel, die in etwa 50 Jahren –
das heißt in wenig über einer Zehntelsekunde unseres
Zeitrafferfilms – einen unendlichen Wert liefert!
Aber wir erlauben unseren Politikern, nur eine Hundertstelsekunde
vorauszudenken – so lang ist eine Wahlperiode.
Milliarden
von Jahren brauchte die physikalische, chemische und biologische
Evolution, bevor das System des Lebens – dieser wunderbare
Organismus! – unseren Planeten einhüllte. Aber nur
wenige Millionen Jahre reichten aus zur Erschaffung des Menschen,
der jüngsten Blüte dieses Organismus. Und bald merkte
der Mensch, dass er nicht einfach ein weiteres Tier darstellt.
Mit ihm hat die nach-biologische Entwicklung begonnen. Zusätzlich
zum genetisch fixierten Verhalten werden Traditionen entwickelt
und durch Erziehung vererbt. Biochemische Mutation und Selektion
verlieren die Vorherrschaft; revolutionäres Denken und
erfinderisches Planen führen zu den neuartigen Mutationen,
mit denen Traditionen immer schneller geändert werden. Immer
komplexere Strukturen entwickeln sich, wie Bibliotheken oder die
Kunst der Fuge. Durch die Technik wird immer mehr Materie in den
Lebensprozess miteinbezogen. Der Kampf an der Front der Evolution
wird nicht mehr so sehr von den Gesetzen der Physik, Chemie und
Biologie bestimmt, sondern von seelisch-geistigen und
technisch-wirtschaftlichen Kräften. Die neuen Kräfte
und die größere Populationsdichte beschleunigen den
Evolutionsprozess mehr und mehr.
Und da geschieht das
unvermeidliche Unglück: Technik und Wirtschaft entdecken die
fossilen Energiequellen. Die Menschheit beginnt zu wuchern wie
die Seerose auf einem gezielt überdüngten Teich. Sie
wissen, wie die Sache ausgeht, wenn der Teich bedeckt ist: Alles
Lebendige stirbt ab, und schließlich auch die Seerose. Der
raffinierte Kampf des Lebens gegen die Entropie-Vermehrung ist
verloren und der Tod, die wahrscheinliche Unordnung,
triumphiert.
Natürlich sind solche Instabilitäten
im Laufe der Evolution immer wieder lokal vorgekommen. Nun
aber ist die Katastrophe global. Der Teich ist unser
ganzer Planet.
Sehen Sie um sich! Wenn wir die jetzigen
Aktivitäten der Menschheit betrachten, finden wir fast nur
Zerstörung, selbst wenn wir von den Kriegen absehen. Alle
langsam gewachsenen Strukturen verschwinden und werden durch
schnell und massenhaft produzierten Schund ersetzt, der, bald als
Schund erkannt, zu Müllhalden aufgetürmt und immer
schneller durch neuen Schund ersetzt wird. Selbst hier in Graz
wird es schon sichtbar. Blicken Sie vom Schloßberg auf die
rings umher hervorwuchernden quaderförmigen Betonklötze!
Wie lange wird Ihre Altstadt widerstehen? Aber selbst wenn sie
mit einigen Konzessionen wie den modernen öden Fensterhöhlen
als Denkmal überdauern sollte – eine organische
Struktur wird sie nicht bleiben, wenn Sie so weiterwirtschaften.
Und Ihre Dörfer und Gehöfte haben Sie schon fast völlig
vernichtet. Bald mag ich nicht einmal mehr in Ihren Gebirgen
wandern gehen! Fast alle Pfade sind ersetzt oder brutal
unterbrochen durch fünf Meter breite Forststraßen, die
bald auch noch durch Betonmauern eingefasst werden müssen,
weil anders die von ihnen ausgehende verwüstende Erosion
nicht mehr zu stoppen sein wird. Und Ihre Almen, die für
mich einmal zu den Kunstwerken zählten, sind nun
Wellblechhütten. Die jahrhundertelange innige Wechselwirkung
von Mensch und vormenschlicher Natur, die all die Schönheit
der Kulturlandschaften allmählich wachsen ließ, ist
ersetzt durch totale Herrschaft des Menschen und folglich –
Zerstörung. Von den Autos und Flugzeugen und all dem anderen
Zivilisationsplunder wie zum Beispiel den Kameras, die bei einem
großen Hersteller intern „Filmverbrennungsmaschinen“
heißen, will ich hier gar nicht erst reden.
Aber
nicht nur die Dinge, sogar die Menschen selbst werden zur
Massenware. Die kulturelle Vielfalt wird ausgerottet. Wenn
Millionen viele Stunden täglich das gleiche Fernsehprogramm
anstarren, ja, wozu gibt es denn dann so viele Menschen? Reicht
dann nicht auch einer? Mir selbst verleidet diese Vorstellung
sogar die wenigen guten Sendungen so sehr, dass ich den
Fernsehapparat längst abgeschafft habe.
Wer aber
nicht bei der zerstörerischen Produktion mithilft oder sie
wenigstens beim Totschlagen der Freizeit anheizt, der gilt als
überflüssig. Arbeitsplätze werden am höchsten
bewertet, wenn sie dazu dienen, besonders viele Rohstoffe
möglichst schnell und unter Einsatz von möglichst viel
Energie in Müll zu verwandeln. Dann ist der Beitrag zum
Bruttosozialprodukt am höchsten. Was trägt dagegen
schon ein Lehrer bei?! Deshalb entlässt man ihn. Das hab ich
nicht nur in Bayern, sondern erst vor ein paar Wochen auch in
Kalifornien erlebt. Dort gibt es auch die Einrichtung der
Volksabstimmung, und das Volk hat abgestimmt, weniger Steuern zu
zahlen. Nun wird zunächst an den Schulen gespart.
Jetzt
werden Sie einwenden, ich sähe zu schwarz. Meinen
„Kulturpessimismus“ gäbe es schließlich
schon seit dem Aufbruch ins industrielle Zeitalter. Und trotzdem
gehe es doch – abgesehen von einigen vorübergehenden
Entartungserscheinungen – insgesamt immer noch voran zum
Besseren. Das Neue sei schließlich doch meist mehr wert als
das Alte.
Aber wie meinen Sie das eigentlich?
Sie
wollen doch immer alles nach den sogenannten wirtschaftlichen
Gesichtspunkten produzieren, das heißt: so billig wie
möglich. Wie kann es dann mehr wert sein? Offenbar eben nur
dadurch, dass Sie mehr und mehr davon produzieren. Das ist wie
bei einem bösartigen Tumor: Das Mengenwachstum ist sein
einziger Wert. Der hochdifferenzierte Organismus wird überwuchert
und zerstört. Das Bruttosozialprodukt ist ein recht gutes
Maß für dieses Krebswachstum, denn es zählt die
Produktion von Schund, Abfall, Gift und Stress als positiv.
Es misst gewissermaßen das Gewicht der Geschwulst. Aber
welcher Krebskranke wäre wohl stolz auf die Gewichtszunahme
seines Tumors?
Ich bitte Sie: Sehen Sie sich die
biologischen, sozialen, kulturellen und seelischen Strukturen
Ihrer Umgebung an und werten Sie nicht mit Preisen, sondern mit
Ihrer Vernunft und Ihrem Schönheitssinn – also mit den
Organen, die uns die Evolution gegeben hat, um Werte zu
beurteilen. Dann werden Sie die bösartigen Wucherungen
überall schaudernd entdecken. Ich möchte erreichen,
dass Sie immer, wenn Sie die Worte „rationelle
Massenfertigung“ hören, zusammenzucken und sie als
beschönigende Bezeichnung für Krebs erkennen.
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Einige
von Ihnen schauten recht kritisch bei meiner Aussage, totale
Herrschaft des Menschen habe Zerstörung zur Folge.
Vielleicht hatten Sie recht – wir sollten den Menschen
nicht unterschätzen. Könnte er nicht auch zu
friedlicher und fruchtbarer Herrschaft fähig sein? Was jetzt
so zerstörerisch wütet ist die einseitige Herrschaft
der ihre Macht genießenden menschlichen Produktionskraft
unter dem Angebot zu billiger Energie. Nun muss ich also den
Veranstaltern des Abends wehtun, die mich um eine wertfreie
Darstellung des Kernenergie-Problems baten. Werturteile sollen ja
für einen Wissenschaftler tabu sein, sie gelten sozusagen
als obszön. Aber ich muss jetzt etwas ganz anstößiges
sagen: Die angeblich so wertvolle Energie ist heute
wertvernichtend. Sie nährt fast ausschließlich das
Krebswachstum.
Von den Gesetzen der Evolution her
betrachtet ist diese Tatsache nicht überraschend. Die
Entdeckung der fossilen Energiequellen bringt das System des
irdischen Lebens aus dem Fließgleichgewicht, das sich unter
den Bedingungen konstanter Sonneneinstrahlung eingestellt hatte
und in dem die Komplexität der lebendigen Ordnung ganz
allmählich wachsen konnte. Mit seinen in hunderttausend
Generationen entwickelten Verhaltensweisen schafft es der Mensch
nicht, den zusätzlichen Energiestrom innerhalb weniger
Generationen zum Nutzen des Lebens einzusetzen. Energie verleiht
Macht, und der früher so nützliche Machttrieb des
Menschen stirbt nicht plötzlich ab. Im Gegenteil: Der Mensch
wird machtsüchtig, energiesüchtig. Die globale
Instabilität setzt ein und wird schneller und schneller
vorangetrieben. Glücklicherweise, möchte man sagen,
geht nun das Öl – die Quelle, aus der sich die
Instabilität jetzt vor allem speist – zur Neige, bevor
der Organismus völlig zerstört ist. Aber die Sucht ist
zu weit fortgeschritten. Wir nennen es die „Energiekrise“
oder den „Ölschock“ und halten verzweifelt
Ausschau nach neuer Antriebskraft. Gerade in diesem Augenblick
gelingt es der Wissenschaft, weitere fossile Energieträger
zu erschließen, die schon bei der Entstehung des Kosmos und
des Sonnensystems gespeichert wurden: Kernenergie. Der Trinker
atmet auf: Es ist ihm gelungen, in eine Schnapsbrennerei
einzuheiraten. – Wie soll die Entziehungskur
aussehen?
Aber noch bevor wir diese Frage ernstlich
stellen beginnt der Wachstumsabhängige schon Verwünschungen
auszustoßen. Er ist gar nicht bereit die Diagnose zu
akzeptieren. Seine letzten Kräfte aufbietend beweist er uns
– scheinbar ganz nüchtern – dass wir irrationale
Weltuntergangsprediger seien. Von Sucht könne gar nicht die
Rede sein – „Sachzwang“ nennt er es. Die
Selbstzerstörung will er nicht wahrhaben. Er sieht nur
gewaltigen Fortschritt. Wenn eine Droge nicht mehr wirkt, so
spricht er von „gesättigten Märkten“ und
sieht eine „Innovationslücke“. Immer schneller
geht er zu immer härteren Drogen über, begeistert über
die immer kürzeren Innovationszeiten. Schließlich ist
der Energiesüchtige bereit zur Hölle zu fahren, weil
dort die Energie am billigsten ist. Und in der überlegenen
Art euphorischer Alkoholiker redet er sich und uns ein,
Wissenschaft und Technik werde es schon gelingen, die Hölle
wohnlich zu machen.
Wie verführerisch ist dieser
technische Fortschrittsglaube! Aber es ist ein Aberglaube. Er
widerspricht den Gesetzen der Evolution.
Es ist wahr:
Diese Gesetze sind nicht im wissenschaftlichen Sinne erwiesen und
schon gar nicht in mathematisierter Form. Das darf uns aber nicht
hindern, ihren wesentlichen Inhalt intuitiv – wenn auch
vorerst nur stammelnd – zu erkennen. Wer über tiefere
oder genauere Intuition verfügt möge mich
korrigieren.
Ich behaupte wir können aus der
Weltgeschichte vom Urknall bis zur gegenwärtigen
Wachstumskrise folgende Schlüsse ziehen:
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1.
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Auf
unserer Erde liegt die Front der Evolution nicht mehr im
biologischen Bereich sondern bei den spezifisch menschlichen
Fähigkeiten. Deshalb findet die weitere Evolution vor allem
in unseren Entscheidungen statt. Das heißt: Wir sind
verantwortlich für den Fortgang der Evolution.
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2.
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Evolution
ist nur möglich, wenn an ihrer Front große innere
Vielfalt gegeben ist. Wir brauchen also möglichst
dezentralisierte Lebensformen der Menschheit. Aber wir sind auch
eingebettet in das System des irdischen Lebens, das uns ja eben
erst hervorgebracht hat. Unsere geistigen Fähigkeiten sind
noch bei weitem zu niedrig entwickelt als dass wir uns über
diese Basis erheben und unsere eigenen Werke auf ihre Kosten
wuchern lassen dürften. Wir müssen also auch die
Vielfalt der lebendigen Natur erhalten.
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3.
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Evolution
ist nur möglich, wenn das Gesamtsystem langsam
veränderlich ist im Vergleich zur Lebensdauer der Individuen
an der Front. Deshalb muss natürlich auch die Front selbst
ähnlich langsam – sagen wir „gemächlich“
– voranschreiten. Wir müssen also möglichst bald
wieder einen quasi-stationären Zustand auf der Erde
erreichen.
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Wenn
Ihnen diese drei Thesen einleuchten, so kommen sie um die
Diagnose Sucht und Krebs nicht mehr herum. Das Wesen der nicht
über uns, sondern mit uns hereingebrochenen
Krise der Evolution besteht darin, dass die Gesetze 2 und 3
verletzt sind, also die Vielfalt und die Gemächlichkeit
fehlen. Und die Ursache ist, dass wir bisher unsere Verantwortung
noch nicht erkannt oder anerkannt haben.
Wenn an der
Front nur die Vielfalt verkümmerte, so würde sie
einfach von der vielfältigen Basis her überholt werden.
Das war sicherlich ein ganz normaler, häufiger Vorgang
während der biologischen Evolution. Wenn aber die
Gemächlichkeit verloren geht, so setzt Krebswachstum
ein. Es fehlt die Zeit zum Beurteilen von Werten durch Erproben
in der Vielfalt. So können sich Scheinwerte durchsetzen und
die Vielfalt überwuchern. Der uns beherrschende Scheinwert
ist der Wahn, wir könnten durch Einsatz von mehr und mehr
Energie immer mehr Materie organisieren. Da dies aber nicht in
Eile möglich ist, desorganisieren wir statt dessen
die Vielfalt an der Front und an der Basis. Wenn wir nicht sofort
innehalten werden wir vermutlich nicht nur uns selbst vernichten,
sondern auch noch das übrige Leben, unsere Quelle. Wir
hinterlassen verbrannte Erde.
Warum aber sollte ein Krebs
innehalten? Er hat seine bekannten eigenen Gesetze. Nur sehr
selten scheinen spontane „Wunderheilungen“
vorzukommen. Dann wurden wohl unbekannte Abwehrkräfte
mobilisiert. Zum Glück ist aber der Vergleich unserer Krise
mit der Krebskrankheit in einem wesentlichen Punkt doch nicht
ganz treffend. Krebs befällt fertige Organismen, deren
biochemische Eigenschaften überwiegend schon im Bauplan
festgelegt sind. Die ökonomisch-technische Wucherung hat
dagegen ein offeneres System befallen. Falls sie nicht schon zu
weit fortgeschritten ist haben wir vielleicht noch Chancen,
selbst Abwehrkräfte zu mobilisieren.
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Fangen
wir gleich an. Ich sehe nämlich schon auf vielen Gesichtern
hoffnungsvollen Unglauben. Meine „Gesetze der Evolution“
widersprechen doch so offensichtlich dem
wissenschaftlich-technischen Fortschritt – da muss
ich einen Fehler gemacht haben!
Warum zum Beispiel nehme
ich im 3. Gesetz an, die menschliche Lebensdauer sei die
relevante Zeitskala? Die Evolution ist eben schon über den
Menschen hinaus gegangen! Computergenerationen folgen viel
schneller aufeinander als Menschengenerationen, und neue
Rechenprogramme lassen sich sogar noch schneller entwickeln! Die
Evolution hat längst eine neue Front eröffnet!
Die biologischen Arten sollen ruhig verschwinden! Als letzte der
Mensch! Und andere, über die von uns geschaffene weit
hinausgehende Organisationsformen der Materie werden die Führung
übernehmen! Der Verlust des technischen Fortschrittsglaubens
ist nur eine kindische, emotionale Regung, ein den Egoismus der
Gene spiegelndes Sich-sträuben gegen die Höherentwicklung
über uns selbst hinaus! Diese höhere Lebensform wird ja
nicht einmal an unsere Erde gebunden sein! Soll diese ruhig
verbrennen! Die Technik wird den Weltraum erobern! Evolution ohne
Expansion ist nicht möglich! Nur keine Angst vor Grenzen –
es gibt keine! Seid fruchtbar und mehret euch und machet das
Weltall euch untertan!
Jemand sagte: Computer sind
schrecklich dumm, sie können nur Ja und Nein sagen –
das aber ungeheuer schnell. Mag sein, dass dies letzten Endes
auch für das menschliche Gehirn gilt. Aber es besteht kein
Zweifel, dass dieses allen Computern noch unendlich überlegen
ist. Das sieht man zum Beispiel daran, dass selbst die dümmsten
Menschen noch zu Emotionen gegen Computer fähig sind, aber
nicht umgekehrt. Nur, bitte, keine Ehrfurcht vor unseren
einfältigen Maschinen! Ehrfurcht vor dem Leben ist es, was
wir brauchen.
Lassen Sie sich also nichts weißmachen!
Ich bleibe dabei: Wenn wir während der Lebensdauer des
Einzelmenschen zu große Änderungen verursachen, so
bauen wir zwangsläufig mehr lebendige Ordnung ab als
auf. Dagegen kann der wissenschaftliche Fortschritt nichts
helfen. Die Technologen, die ihn anwenden, benehmen sich wie die
Zirkusclowns, die durch abwechselndes Sägen an den vier
Beinen eines Tisches dessen Wackeln begegnen wollen. Mehr und
mehr von uns, die wir an diesem Tische liegen, spüren die
Folgen: Unsere Basis, das unübersehbar vielfältige
System des gesamten irdischen Lebens, wird abgebaut. Viel zu
komplex ist dieses System, als dass wir durch Einsatz unserer
geringen wissenschaftlichen Erkenntnisse es fördern könnten.
Die Wahrscheinlichkeit, bei einem gezielten Eingriff das Ziel zu
verfehlen, ist überwältigend groß. Deshalb ist
klar, dass die Anwendung von Wissenschaft schon bisher mehr
Schaden als Nutzen angerichtet haben muss. Beschleunigte
Anwendung wissenschaftlichen Fortschritts kann dies nur
verschlimmern.
Mit diesen Aussagen stoße ich, wie
Sie sich denken können, bei anderen Wissenschaftlern auf
wütenden Protest oder wortlose Verachtung. Die meisten hören
freilich nicht einmal zu, weil sie mit der Forderung noch
schnellerer Innovation und noch rationellerer Massenproduktion
voll ausgelastet sind. Doch selbst wenn es ihnen dabei zuweilen
gelingen mag, den Krebs etwas weniger chaotisch wuchern zu lassen
und ein bisschen Ordnung zu produzieren, kann es doch wegen der
Schnelligkeit nur die einfältige Ordnung des Kristalls
werden, nicht die vielfältige des Lebens.
Wie
aber steht es mit meinem 2. Gesetz? Kennen wir nicht die Folgen
der Vielfalt in der Menschheit zur Genüge? Führt nicht
gerade sie zum ständigen Kampf und zu noch gewaltigerer
Zerstörung im Krieg?
Diese
Erfahrung spricht aber nicht gegen die Vielfalt, sondern gegen
Machtanspruch und Gewalt. Die Evolution darf eben nicht mehr auf
dem Niveau von technischer, ökonomischer oder militärischer
Macht stattfinden. Was in diesem Kampf ums Dasein siegt,
ist eben nicht besser, denn hier ist wiederum das 3.
Gesetz, die Forderung nach Gemächlichkeit, verletzt. Gegen
den Krieg ist also nicht die Abschaffung der Vielfalt durch
bürokratische Zentralgewalt – also Einfalt – das
rechte Mittel, sondern das in jedem Einzelnen und jeder
Gemeinschaft allmählich wachsende Bewusstsein der eigenen
Verantwortung für das Einhalten der Gesetze der Evolution in
dem neuen Stadium, in das sie mit der Entwicklung unserer
Fähigkeiten getreten ist. Damit widerspreche ich natürlich
nicht der Notwendigkeit einer losen globalen Zusammenarbeit und
einer Art Polizei gegen Rückfälle.
Sie
haben nun vermutlich genug von meinen theoretischen Erörterungen
und werden fragen: Selbst wenn er recht hätte – was
sollen wir denn tun? Gibt es denn Alternativen?
Vieles,
was ich hier sage, stammt aus meiner Erwiderung auf einen
Vortrag, den der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker im
Frühjahr 1978 vor den führenden Leuten in Bonn hielt,
und der in der Wochenzeitung DIE ZEIT sowie an verschiedenen
anderen Stellen abgedruckt wurde. Er kam den
Kernkraftwerksbetreibern so gelegen, dass sie ihn massenhaft und
kostenlos als Informationsmaterial verschickten. In seinem
Vortrag schilderte Herr von Weizsäcker recht anschaulich
einige unserer Probleme mit dem Wachstum, kam dann aber zu dem
merkwürdigen Schluss, dass wir so weitermachen müssen.
– Hören wir ihn:
„Der
Weltmarkt hat noch ein unbegrenztes Wachstumspotential. Wachsen
wir nicht, so geht unser Anteil an ihm zurück, und das
bedeutet für uns faktisch eine Stabilitätskrise.“
Erkennen Sie die
Krebs-Parolen? So also spricht der Tumor angesichts der
Metastasen, die er ausgesät hat, und die ihm nun einen Teil
des Organismus streitig machen. Herr von Weizsäcker scheint
den Krebs-Charakter der globalen Instabilität noch gar nicht
erkannt zu haben. Er findet für sie nur das beschönigende
Wort „Nötigung zum Wachstum“. Umso mehr Angst
hat er vor den Veränderungen, die notwendig wären, um
Abwehrkräfte zu mobilisieren. Er nennt sie „faktische
Instabilitäten“.
Mir
scheint es aber ganz selbstverständlich, dass wir Europäer
als erste die Pflicht haben, der globalen Instabilität
entgegenzuarbeiten – denn bei uns fing sie an und ist sie
am weitesten fortgeschritten. Und um dieser Pflicht zu genügen
müssen wir auf hergebrachte „Marktanteile“
verzichten. Anteile auf dem Weltmarkt der Instabilitätsforderung
und ihrer Abfallprodukte sind nicht mehr erstrebenswert! Nach
ihnen zu streben ist im Sinne der soeben formulierten Gesetze
kriminell. Ich meine nicht, dass wir Europäer unmoralischer
waren als andere; wenn nicht wir als erste dem Wachstumswahn
verfallen wären, so wäre er wohl wenige Jahrhunderte
später anderswo ausgebrochen. Die Krise ist sozusagen in die
Evolution eingebaut. Aber im primären Herd wird die
Krankheit am frühesten erkannt, und dort mobilisiert sie
noch die stärksten Abwehrkräfte.
Die
Veranstaltung des heutigen Abends ist für mich ein Teil des
Abwehrkampfes. Wie heftig dieser wird sehen sie an der seit
einigen Jahren rapide anwachsenden Literatur über die
Grenzen des Wachstums und alternative Technologien und
Lebensformen.
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Wie
also fangen wir es an, den Wachstumswahn zunächst bei uns
selbst zu brechen? Es ist klar, dass gewaltige Widerstände
von allen Seiten zu erwarten sind. Die gesamte „Ausbeuterklasse“
wird über uns herfallen, um ihre echten oder eingebildeten
Privilegien zu verteidigen. Mit „Ausbeuterklasse“
meine ich natürlich unsere ganze Gesellschaft; Kapital und
Arbeiter haben sich ja verbündet, den Organismus der Natur
auszubeuten. Marx hatte schon recht mit seiner
Verelendungstheorie – wenn er auch diese
Akzentverschiebung noch nicht klar voraussah: Die Natur
verelendet, und mit ihr die menschliche Seele. Und wohl auch
Gott, der sich in ihr entwickeln wollte.
Aber haben Sie
keine Angst, sich von den Verteidigern des laissez-faire
als weltfremde Schwärmer oder besessene Querulanten
beschimpfen zu lassen! Und glauben Sie nur nicht den
Vorhaltungen, Sie seien nicht sachverständig genug! Vielen
unserer Kinder, die aus der von der Ökonomie beherrschten
Irrsinnsgesellschaft austreten oder gar nicht erst in sie
eintreten wollen, haben die Sache ganz intuitiv verstanden. Die
Front der Evolution muss von unseren ökonomisch-technischen
zu unseren seelisch-geistigen Fähigkeiten verschoben werden.
Die in der Tat notwendige Expansion muss nach innen gehen. Dort
ist Raum für fast unendliches, vielfältiges,
gemächliches Wachstum. Wir wollen nicht mehr Produktivität
bewundern, sondern Kreativität; nicht mehr Macht,
sondern Kunst; wir wollen nicht so viel haben,
sondern mehr sein. Vor allem aber dürfen wir nicht so
billig haben wollen.
Dann brauchen wir zum Beispiel
auch unsere Metastase Japan nicht mehr zu fürchten. Der
Welthandel wird beträchtlich abnehmen und die kulturelle
Vielfalt wieder wachsen. Wir werden uns viele Dinge wieder lieber
selbst herstellen oder vom Nachbarn kaufen, und auf unsere
Eigenheiten stolz sein.
Zur Illustration muss ich Ihnen
noch von einer Anzeige der deutschen Kraftverkehrsunternehmer
erzählen, die kürzlich in vielen großen Zeitungen
und Zeitschriften zu sehen war. Vielleicht kennen Sie Brummi,
die dicke, freundliche Sprechblasenfigur dieser Branche, die der
Bevölkerung klarzumachen hat, wie gut es ihr mit den vielen
Lastwagen auf den Straßen geht. In der Anzeige kam der
Besitzer einer Großbäckerei in Gütersloh zu Wort:
„Wenn ich von Gütersloh aus die ganze Bundesrepublik
mit frischem Brot versorgen will, dann muss das gehen wie‘s
Brezelbacken! Dank Brummi...“ und so weiter. Ich dachte
erst, es sei eine Satire. Aber nein, es war ein echtes
Krebs-Symptom. Ein paar Tage später macht die letzte
Bäckerei in unserer Nachbarschaft zu, und ein neues
Autobahnstück hüllt uns Tag und Nacht in Sausen und
Brausen.
Kennen Sie übrigens Ivan Illichs
Autorechnung? Wie lange müssen Sie arbeiten, um die
gesamten Kosten zu verdienen, die Ihr Auto pro Kilometer
verschlingt? Diese Zeit für einen Kilometer plus der
Zeit, die Sie brauchen, um diesen Kilometer zu fahren, ergibt
eine Geschwindigkeit; Sie werden sehen: Sie hätten auch Rad
fahren oder gar zu Fuß gehen können. – Und noch
ein schönes Wort, von Ulli
Harp [?], zur angeblich schon hinter uns liegenden
Abschaffung der Sklaverei: Sisyphus hat es heute leichter, der
Stein wird jetzt vollautomatisch hochgezogen. Er muss nur noch
hinterherrennen.
Werden wir auf wirklich wertvolles
verzichten müssen? Nein. Und ganz sicher braucht niemand
Hunger und Armut zu leiden. Übrigens verzichten wir heute
auf fast alles Wertvolle, wie Sie an der rapide anwachsenden Zahl
seelischer Krankheiten ablesen können. Und wenn Sie noch
über den eigenen Bauch hinaussehen können, werden Sie
auch zugeben, dass Dank dem von uns, der Menschheit, bescherten
Fortschritt heute mehr Hungernde und Arme auf der Welt
leben und sterben als je zuvor. Dieses Problem wird aber nicht
von mächtigen Zentralregierungen mit Riesenkraftwerken,
Landverdrahtung, Massen von Chemikalien und dergleichen gelöst
werden, sondern durch unsere Unterstützung von Initiativen
in Stadt- und Dorfgemeinschaften, durch dezentrale Nutzung
von Sonnenenergie, Hege der Landschaft und Pflege des
Bodens.
Ich habe nichts gegen Kernenergie – wenn sie
von der Sonne kommt. Diese liefert uns ja selbst in Mitteleuropa
im Durchschnitt etwa 120 Watt pro Quadratmeter. Das ist im
Durchschnitt über alle Wetterbedingungen, Tag und Nacht und
Jahreszeiten. Und nicht zu vergessen: Dieses „Kernkraftwerk“
ist zugleich seine eigene Aufbereitungsanlage und Endlagerstätte.
Die Menschheit muss möglichst bald die Entscheidung treffen
und dann stetig darauf hin arbeiten, dass sie in wenigen
Generationen zur ausschließlichen Nutzung von
Sonnenenergie zurückkehrt. Alle anderen Energiequellen
würden auf die Dauer zerstörerisch wirken und sind mit
dem für weitere Evolution anzustrebenden quasi-stationären
Zustand nicht verträglich. Diese Entscheidung für die
Sonnenenergie darf aber nicht von einer utopischen
Menschheitsregierung erwartet werden – wir müssen
sie treffen und in Gemeinschaft mit den sonnenreichen armen
Ländern verwirklichen.
Lassen Sie mich hier einfügen,
dass ich unter Sonnenenergie alles das mitzähle, was auch
indirekt durch die Sonne geliefert wird. Dazu gehört also
selbstverständlich auch die Wasserkraft und die Windkraft
und dergleichen.
Der Primärenergieverbrauch in den
USA beträgt heute etwa 10 Kilowatt pro Person. Das
entspricht der körperlichen Arbeitsleistung von 100 Sklaven.
Obwohl der größte Teil dieser Leistung vergeudet wird
oder das Krebswachstum nährt, wollen die
Wirtschaftsstrategen diese „Wohltat“ der ganzen
Menschheit zuteil werden lassen. Nun stellen Sie sich einmal die
voll auf Kernenergie gegründete Menschheit vor! Die
ungeheuer vielen Reaktoren und Reaktor-Ruinen,
Aufbereitungsanlagen, Endlagerstätten, das ständige
Hin-und-her-transportieren gefährlichster Stoffe, die man
zum Teil für zehntausende von Jahren unter absolut sicherer
Kontrolle halten muss! Welche technischen und gesellschaftlichen
Sicherheitsvorkehrungen wird das nötig machen! Und doch
bliebe es auch bei größter Anstrengung immer eine
instabile Situation. Wenn ich daran denke, sehe ich eine riesige
Maschine vor mir. Mag sein, sie ist ganz leise und glänzend
sauber, aber sie steht auf der Spitze eines Kegels, und rings
umher stehen wir alle, wohlgeordnet durch ein strenges Regiment,
und stützen sie unter Aufbietung aller Kräfte; wenn
auch nur einer von uns loslässt kann sie herunterfallen und
uns alle zermalmen oder verbrennen oder alles Leben vergiften. So
können wir nie wieder loslassen. Jeder von uns wäre
also gewissermaßen sein Leben lang an die Aufgabe gekettet,
seine hundert Sklaven zu bewachen und zu verwalten.
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Noch
haben wir die Chance, diesen Irrsinn abzuwenden. Und Sie
haben sogar den Vorzug, direkt dazu gefragt zu werden. Wenn es
Ihnen schwer fällt, die in Zwentendorf investierten 8
Milliarden Schillinge zu verschmerzen, so rechnen Sie sich aus,
welchen Teil des jährlichen Zigaretten- und Alkoholkonsums
diese Summe darstellt. Selbstverständlich müssen ja
diese Verluste von der ganzen Gesellschaft getragen werden, die
ja auch am Wachstum profitieren wollte. Im Vergleich zu den
anderen Schäden, die der Krebs in der Gesellschaft und der
Ökosphäre bereits angerichtet hat, zum Beispiel durch
unseren chemischen Großeinsatz gegen die Natur, und die wir
zu reparieren versuchen müssen, ist übrigens diese
Summe lächerlich gering.
Wir werden also hart
arbeiten müssen, um die Wunden zu heilen, die wir uns selbst
und der Umwelt schon geschlagen haben. Aber diese Arbeit wird
Freude machen, weil sie nicht zerstört, sondern dauerhafte
Werte schafft. Hier liegt auch die wichtigste Aufgabe der Natur-
und Geisteswissenschaften. Ihnen werden zum Beispiel die Fragen
gestellt: Wie ist Heilung überhaupt noch möglich?
Welche Eingriffe sind nötig, und wie können wir die
damit verbundenen Nebenwirkungen und Schmerzen möglichst
gering halten? Wie müssen wir die politischen Systeme
modifizieren, die jetzt überall auf der Welt Gier und
Dummheit zu viel Macht überlassen? Nicht, dass Gier und
Dummheit abgeschafft werden könnten – aber wir dürfen
ihnen nicht die Herrschaft in die Hand geben. Sie sehen: Ich will
Sie zu Verfassungsfeinden machen!
Das Dilemma ist
offensichtlich: Die globale Entartung der Evolution ist so weit
fortgeschritten, die Instabilität hat schon so viel Schwung
gesammelt, dass wir nicht ruckartig anhalten können.
Beim Bremsen wird der Schwung in Reibungswärme umgesetzt,
und Hitze ist Unordnung. Wie also finden wir zur Achtung der
Evolutionsgesetze zurück, ohne unsere Welt in Flammen
aufgehen zu lassen? Die Wissenschaft, die uns zu Gesetzesbrechern
werden lassen musste, muss uns auch helfen, durch weitere, nur
allmählich „mildere“ Gesetzesbrüche zum
Gesetz zurück zu finden. Denn um ohne Ruck in den
erwünschten Zustand des Fließgleichgewichts zu finden
müssen wir für mindestens einige Jahrzehnte auch
weiterhin das wichtigste Gesetz verletzen: Wir können uns
nicht die an sich notwendige Zeit lassen, um das in den
letzten Jahrhunderten gewachsene Geschwür zu heilen oder
abzukapseln oder herauszuschneiden. Hier das richtige Maß
zu finden wird sehr schwierig sein. Eine Hoffnung sehe ich in den
noch erhaltenen Resten kultureller und zivilisatorischer
Vielfalt.
Sie sehen: Ich predige nicht das Ende der
Wissenschaft. Zum Beispiel würde Ihnen die von Ihnen
geforderte Entscheidung über das Kraftwerk Zwentendorf
sicher leichter fallen, wenn Ihre Wissenschaftler schon eine
gründliche Untersuchung geliefert hätten, wie
Österreich ohne Kernenergie auskommen kann und wie
viel Energie Sie überhaupt zu welchen Zwecken brauchen. Ich
frage nicht nach Prognosen, denn die Prognose von Krebs
ist bekannt. Ich meine die Diskussion wünschenswerter
Lebensformen. Für die Schweiz und Schweden gibt es schon
Studien, die zeigen, wie es sich ohne Kernenergie leben lässt.
Österreich kann das selbstverständlich auch, und zwar
ohne die dann angeblich notwendige Verbauung der letzten
ursprünglichen Flusslandschaften. Bringen Sie doch einmal so
viele Wissenschaftler, wie jetzt in der nuklearen Großforschung
arbeiten, dazu, über die technisch, ökologisch und
soziologisch besten Wege der Sonnen- und Bodennutzung
nachzudenken und zu experimentieren! Sie würden eine Menge
überraschend einfacher und schöner Lösungen
finden, die übrigens gerade auch der Initiative kleiner
Unternehmer viel Raum bieten sollten. Lassen Sie aber nicht die
Ökonomen Macht auch über die Alternativen gewinnen!
Selbstverständlich kann man auch mit Sonnenenergie den Krebs
weiter nähren und die Erde mit Schund überziehen.
Wenn
Sie sich informieren wollen, wie viel in den letzten Jahren schon
über Alternativen nachgedacht wurde, so lesen Sie doch
zunächst einmal E. F. Schumachers Small is Beautiful. A
Study of Economics as if People Mattered – auf deutsch
bei Rowohlt unter dem Titel Die
Rückkehr zum menschlichen Maß – und
Amory Lovins‘ Soft
Energy Paths, herausgegeben von den Friends Of The Earth –
auf deutsch bei Rowohlt ebenfalls, unter dem Titel Sanfte
Energie. Der Name Soft Path oder Sanfter Weg –
als Gegensatz zum harten Weg der zentralistischen Technokratie –
scheint sich nun als Schlagwort für die auch von mir
angedeuteten wünschenswerten Entwicklungen durchzusetzen.
Zwentendorf wäre der richtige Ort für ein Institut zur
Erforschung des „sanften Weges“ für Österreich.
Das Kraftwerk selbst, das ja auch wegen der Sicherheitsaspekte
nicht in Betrieb gehen sollte, stellen Sie am besten unter
Denkmalschutz. Denken Sie mal, wie gut es für ein
„Wachstumsmuseum“ geeignet wäre! Alle
österreichischen Schüler müssten einmal dort hin
eingeladen werden. Vielleicht auch die Unternehmer.
Ich
hoffe Ihnen klargemacht zu haben, dass es nicht genügt, Nein
zur Kernenergie zu sagen. Der Fortschritt muss neu
definiert werden. Die ihn jetzt verkünden sind nicht auf
seiner Seite. Sie müssen sich neue Anführer suchen, die
Sie auf den „sanften Weg“ führen. Sie können
nicht einfach Nein sagen und im übrigen so tun als sei
nichts geschehen, als könne man so weiter wursteln wie
bisher. Das Nein muss Folgen haben – in Ihrem privaten und
politischen Leben. Es ist eine Umkehr, eine Bekehrung. Sie
übernehmen Verantwortung – für die Zukunft, gegen
die Einfalt, für die Vielfalt. Und wenn Sie mehr Bildung
oder Talente besitzen als andere, so folgen Sie bitte nicht der
allgemeinen Ansicht, Sie müssten damit Privilegien
erwerben. Warum kommen Sie nicht auf den Gedanken, es vergrößerte
Ihre Verantwortung?
Mein Namensvetter Franz Kafka
schrieb einmal in sein Tagebuch: „Es gibt ein Ziel, aber
keinen Weg. Was wir Weg nennen ist Zögern.“ –
Diese Sehnsucht nach dem Absoluten, dem wir uns nur hinzugeben
bräuchten, um Frieden zu finden, ist uraltes menschliches
Erbe. Dennoch würde, glaube ich, Kafka heute den Spruch
umwenden: „Es gibt einen Weg, aber kein Ziel. Was wir Ziel
nennen ist Einbildung unserer Ungeduld.“ – Ein Ziel
der Evolution kennen wir nicht, sie ist offen. Aber wir müssen
und können ihr einen Weg bauen, auf dem sie über die
Krise – die erste Zehntelsekunde des neuen Jahres in
unserem Zeitrafferfilm – hinwegkommt. Erforschen wir ihre
Gesetze, und wir werden sehen: Es ist der „sanfte Weg“,
vorwärts zur Natur.
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