Wohin rennen wir eigentlich?
Wirtschaften für das Leben – Gegen den Verlust und Ausverkauf von immer mehr Lebensbereichen an den totalen Markt.

Anlaß: Die neue Liberalisierungsrunde der WTO. Erweiterte nachträgliche Schriftfassung einer Ansprache von Peter Kafka in der Erlöserkirche München Schwabing am 13. November 1999

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1. TEIL

Wir stehen im internationalen Wettbewerb. Die Einpeitscher erinnern uns täglich daran – durch alle ihre Medien. Wohin das Rennen geht, sagt keiner. Ein Ziel gibt es offenbar gar nicht. Es scheint ein Wegrennen zu sein – eine Flucht also. Aber wovor denn? Na klar: Vor dem Untergang! Wer in der Konkurrenz nicht vorn ist, muß untergehen, erklärt man uns. Und weil die Krisensymptome immer rascher auf uns zukommen, scheint auch klar: Das Rennen muß schneller werden! Wir brauchen mehr Wettbewerb! heißt es deshalb ständig. Wir wollen also nicht nur, daß andere untergehen – nein, wir wollen uns hierfür auch noch mehr anstrengen müssen!

Rührt sich irgendwo in Politik und Wirtschaft Widerstand gegen solche Absurditäten? Kaum. Alle scheinen sie als unabwendbar hinzunehmen – wie man früher die altmodischeren Formen des Krieges hinnehmen mußte. Und wie immer finden sich gerade unter Professoren und Wirtschaftsredakteuren viele beflissene Verteidiger des Systems – oft zusätzlich gut bezahlt von den Sponsoren des Rennens. Sie erklären, warum das alles so in Ordnung ist und gar nicht anders sein könnte. Dem vernünftigen Denken dagegen droht die endgültige Abschiebung. Es muß nun um Kirchenasyl bitten.

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Die Macht der Menschen ist die gewaltigste Naturgewalt geworden. Sogar die Natur selbst beginnt unter ihr zusammenzubrechen. Denken Sie an den drohenden Klimawandel durch unsere Energieverschwendung, an die Vergiftung von Gewässern und Böden durch Freisetzung von immer mehr lebensfremden Stoffen und gar neuen Organismen, die wahrscheinlich nicht mit der Biosphäre zusammenpassen – oder denken Sie daran, daß heute stündlich etwa zehn lebendige Arten aussterben, die zu ihrer Entstehung Millionen von Jahren brauchten. Bei all seinen Fähigkeiten scheint der Mensch buchstäblich verrückt geworden zu sein.

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Die böse oder dumme Macht ist nicht so sehr an Personen gebunden. Sie steckt bekanntlich in den Sachzwängen! Weder wir kleinen Verbraucher noch unsere Anführer in Politik und Wirtschaft haben die Macht, die Systemzwänge abzuschaffen. Wie ja auch nicht etwa Generäle den Krieg abschaffen könnten – selbst wenn sie das wollten.

Freilich führte man Kriege nicht um ihrer selbst willen. Es ging darum, sich fremde Lebensgrundlagen anzueignen – oder sich gegen die Eroberung durch andere zu verteidigen. Schon im Tierreich war die Konkurrenz um Lebensgrundlagen der eigentliche Antrieb des evolutionären Aufstiegs. Das lernt man doch heute sogar in kirchlichen Schulen – wenigstens hierzulande.

Anfangs wurde auch beim Menschen die Konkurrenz um Lebensgrundlagen meist mit blutiger Gewalt ausgefochten, aber mit seinen höheren Fähigkeiten entdeckte er bald, daß es effektiver ist, das sogenannte Recht dafür einzusetzen – speziell das Recht, sich die Lebensgrundlagen anderer Menschen oder gar die Menschen selbst anzueignen, um sich von ihnen bedienen zu lassen. Blutige Gewalt mußte dann nur noch gegenüber Völkern außerhalb des eigenen Rechtssystems geübt werden – oder in den seltenen Fällen, wo Sklaven nicht zugeben wollten, daß sie rechtmäßiges Eigentum ihrer Herren waren.

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Immerhin ging dann, vor über zweihundert Jahren, von Christen eine Bewegung mit dem Ziel aus, die Sklaverei für Unrecht zu erklären. In England gelang das endgültig gerade hundert Jahre vor meiner Geburt. Und das machte nicht einmal große Schwierigkeiten, denn man hatte ein raffinierteres Rechtssystem gefunden, das weiterhin eine genügende Zahl von Dienern für die Herren garantierte, fast ganz ohne Peitsche. Logisch: Man muß doch nicht Menschen als Eigentum besitzen – igitt! Das Eigentum an ihren Lebensgrundlagen erfüllt den selben Zweck, und viel rationeller!

Das funktionierte zunächst auch gar nicht schlecht, abgesehen von Kleinigkeiten – wie etwa der Tatsache, daß viele Kinder in Kaminen oder Bergwerken herumkriechen mußten, um ein bißchen Essen zu kriegen. Der Wohlstand der meisten Menschen stieg doch beträchtlich an – zumal man viele der niedrigsten Dienste an den Rand der Welt delegieren konnte.

Auch gab es ja zunächst noch viele persönliche Beziehungen zwischen Herren und Bedienern des Kapitals. Die Eigner lebten sogar meist in der Nähe ihres Eigentums, so daß sie selbst Interesse daran hatten, daß es schön war. Schauen Sie sich nur ältere Stadtbilder an! Der bürgerliche Kapitalismus im kleinen Maßstab brachte doch viele durchaus lebensfreundliche Details hervor. Trotz der Kriege ging es letztlich aufwärts, und so leben heute in weiten Teilen der Erde große Bevölkerungsteile besser als ihre Großeltern – wenn man auch dasselbe für die Enkel kaum noch zu hoffen wagt.

Wieviel leichter das Leben geworden ist! Als ich geboren wurde, rackerte sich noch über die Hälfte aller Deutschen für die Erzeugung der Nahrung ab – heute arbeiten noch etwa zwei Prozent in der Landwirtschaft – und Europäische Kommissare finden auch das noch zu viel. Klar: Wo so viel Kapital immer rationellere Produktionsmethoden fördert, da muß man nicht mehr viel arbeiten. Ärgerlich nur, daß dann mit immer weniger Arbeit immer mehr Kapital bedient werden muß – und immer mehr Arbeitslose mitversorgt werden sollen. Nicht wahr?

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Das ist aber nicht etwa Folge einer kleinen Panne. Das kapitalistische Prinzip ist leider grundsätzlich instabil. Die Vermögen sollen ja ständig wachsen und werden deshalb zweckmäßig in Lebensgrundlagen anderer Menschen investiert. Wer lebt, muß dann durch seine Bedienung das Kapital wachsen lassen. Und selbstverständlich wird auch dieser Zuwachs möglichst wiederum in fremde Lebensgrundlagen investiert. So wachsen nicht nur die Vermögen exponentiell, sondern auch die Abhängigkeit von ihnen. So mächtig sind nun die Investoren geworden, daß sie den Völkern der Welt sogar diktieren wollen, daß gesetzliche Regeln für den Schutz der Natur oder der Bürgerrechte nicht mehr erlassen werden dürfen, wenn sie den Profit von Investoren schmälern würden.

Wenn sich ein kleines Geldvermögen in wenigen Jahren verdoppelt, so ist das harmlos. Bei einem großen aber wirkt das wie eine Explosion: Plötzlich stehen riesigen Vermögensansprüchen gar nicht mehr genügend wirkliche Werte gegenüber. Die können nämlich nicht so schnell wachsen. Zwar nennen Ökonomen das Sozialprodukt allen Ernstes „Wertschöpfung“, doch ist dieses mittlerweile eher ein Maß für zerstörerische Aktivitäten geworden als für die Schaffung lebensfähiger Werte.

Ein Ausweg war früher der Krieg: Wenn das Volk nicht rasch genug Werte schaffen kann, soll es gefälligst welche erobern! Anschließend ist freilich stets so viel kaputt, daß die meisten ganz von vorn beginnen müssen. Aber selbstverständlich wird dabei die Konkurrenz um Aneignung von Lebensgrundlagen fortgesetzt. Mit noch raffinierteren Techniken und Rechtssystemen wird das allgemeine Rennen wieder aufgenommen – auf größer gewordener Organisationsskala und mit noch schnellerer Innovation der Mittel.

Nun hatten wir hierzulande über 50 Jahre keinen Krieg, und schon wegen der Atomwaffen ist auch kaum noch ein solcher vorstellbar. Der ständig aufgeblähte Ballon der Vermögen muß nun wohl auf andere Weise platzen. Aber wie?

Sollen wir auf den „großen Crash“ warten? Oder gibt es eine Chance, daß dieser in der politisch-wirtschaftlichen Realität vermieden wird, weil er zuvor gewissermaßen in den Köpfen stattfindet? Ist es vorstellbar, daß die Mehrheit über die Absurdität der Systemzwänge so weit aufgeklärt wird, daß die Rahmenbedingungen der Wirtschaft auf dem ganz normalen Wege politischer Mehrheitsentscheidung geändert werden?

Ja – das ist vorstellbar, behaupte ich. Der Leidensdruck der Mehrheit wird ständig wachsen, und die Verbreitung neuer Ideen wird sich mit aller Medienmacht nicht ganz verhindern lassen. Schließlich muß sich ja bald der naivste Mitläufer fragen, woran es wohl liegt, daß wir uns trotz angeblich ununterbrochen wachsender Wertschöpfung nun gerade das Selbstverständlichste nicht mehr sollen leisten können: Vernünftige Versorgung und Erziehung von Kindern, Ausbildung von Jugendlichen, Bewahrung natürlicher Lebensgrundlagen, Versorgung von Kranken, Pflege der Alten ... Überall heißt es: Wir müssen sparen! Es ist kein Geld da!

Da muß wohl bald die Frage laut werden: Ja – wo ist es denn eigentlich?





2. TEIL

An der Macht ist es – und die ganze Gesellschaft arbeitet daran, diese Macht weiter wachsen zu lassen. Wenn z.B. Eltern Essen für ihre Kinder kaufen, wächst dadurch bei irgendwelchen Vermögenden ein Konto. Oder – was Familien noch härter trifft: Von der durchschnittlichen Miete entfallen heute etwa drei Viertel auf Zinsen! Die gesamte Last der Zinsen und anderer Formen der Kapitalbedienung ist bei uns etwa ebenso hoch, wie die gesamte Steuerlast. – Ein Teil davon wird freilich sogar als Steuer eingezogen: Obwohl das Geld doch eigentlich eine öffentliche Einrichtung ist, muß sich die „öffentliche Hand“ zur Erfüllung ihrer Aufgaben immer mehr Geld von den Reichen leihen! Die Zinsen für diese Staatsverschuldung machen bekanntlich bald ein Drittel aller Steuern aus.

Jeder kleine Sparer glaubt, er gehöre selbst zu den Nutznießern der Zinsidee. Lassen Sie Ihr Geld arbeiten! wird ihm eingebleut – aber tatsächlich arbeitet nicht nur er selbst, sondern sogar sein Geld überwiegend für die Geldvermehrung bei einer kleinen Minderheit. Per Saldo profitieren nur wenige Prozent der Bevölkerung – und von diesen wiederum die meisten nur geringfügig, einige wenige aber ganz außerordentlich. Sozialneid! schallt es jedem entgegen, der das erwähnt. Und gerade jene mit den größten leistungslosen Einkommen mahnen uns ständig: Leistung muß sich wieder lohnen! – Aber ist nicht bald die einzige Leistung, die sich lohnt, das Haben?

Eine Zahl für diese „Subventionierung des Kapitals“ habe ich noch zu nennen vergessen: Es sind etwa zwei Milliarden Mark pro Tag! Das ist mehr als zehnmal so viel wie alle Sozialhilfe für Arme. Ich nenne es gern die Sozialhilfe für die Reichen.

Da gibt es Kopfschütteln. „Natürlich brauchen wir die Kapitalakkumulation“, wird ein Volkswirtschaftler sagen, „sonst ist doch für wichtige Aufgaben kein Geld da! Die Leute würden alles verfrühstücken!“ Aber wie merkwürdig: Nun sparen schon viele am Frühstück, aber es ist immer weniger Geld da! Deshalb soll die Gesellschaft nun auch noch die letzten gemeinsam erarbeiteten Werte an Investoren verschleudern, um wenigstens ein bißchen von deren Geld abzubekommen. Privatisierung nennt man das. Und Deregulierung nennt man es, wenn Regierungen (oder das Brüsseler Politbüro) gesetzlich und vertraglich dafür sorgen, daß die Bedienung der Investoren nicht etwa auf demokratischem Wege durch soziale oder ökologische Ziele behindert werden kann.

Die gescheiterten Pariser MAI-Verhandlungen hatten dieses Ziel, und nun wird es im Rahmen der WTO-Verhandlungen in Seattle weiterverfolgt werden. Am liebsten täte man es heimlich, ohne das Volk auch nur zu informieren oder gar zu fragen. Aber wer ist eigentlich „man“? Wissen Sie, wer all das so energisch vorantreibt? Ach was – alles viel zu schwierig – nicht wahr? Selbst der durchschnittliche Abgeordnete versteht nicht, worum es geht. Sollen das doch die Zuständigen regeln! Ja – wer also?

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Weiterdenken ist eine anstrengende Arbeit – und eine zunächst unbezahlte natürlich, weil sie ja gegen die Macht des Geldes gerichtet sein muß. Ich empfehle, mit dem Nachdenken über die angeblich unaufhaltsame Globalisierung und die angeblich dringend gebotene Beschleunigung technischer Innovation etwas näher an den Wurzeln zu beginnen. Wir müssen nämlich verstehen lernen, wovon es eigentlich abhängt, ob der Fortschritt aufwärts oder abwärts führt. Zu einer solchen „Systemtheorie von Gott und Teufel“ muß ich hier wenigstens eine Andeutung machen: Entscheidend ist die Einsicht, daß zwar größere Organisationsform und höhere Innovationsgeschwindigkeit „selektive Vorteile“ in der evolutionären Konkurrenz haben – daß es aber selbstverständlich für beides kritische Grenzen gibt.

Die Grenze der Größe ist klar: „Globaler als global kann's nicht werden“. Aber auch die kritische Grenze der Fortschrittsgeschwindigkeit ist leicht zu begreifen: Wenn an der Front im Reich der Möglichkeiten so schnell vorangestürmt wird, daß völlig unerprobte Bereiche verwirklicht werden, bevor auch nur einmal der Lebenszyklus der führenden Gestalten durchlaufen ist, dann wird es extrem unwahrscheinlich, daß Neues und Altes noch auf lebensfähige Weise zusammenpassen. Die Wirklichkeit findet dann im Raum der Möglichkeiten nicht mehr aufwärts zu höherer Komplexität, sondern taumelt abwärts, in kompliziertes Chaos.

Wir sind diese Anführer. Wenn wir in der Eile nicht einmal mehr ausprobieren können, ob das Neue mit uns selbst zusammenpaßt, dann paßt es wahrscheinlich noch weniger mit den bewährten Ergebnissen früherer Schöpfungstage zusammen. Das schafft Probleme. Die lösen wir schnell – aber siehe da: Für jedes gelöste Problem sind mehrere neue da. Die neuen Probleme sind größer als die alten, sie greifen weltweit weiter aus und schreien nach noch schnellerer Lösung. Da wegen der globalen Vereinheitlichung weniger verschiedene Versuche gemacht werden, kommt die Lösung in der Tat schneller – aber sie ist noch wahrscheinlicher ein Irrtum. So verstärken sich globale Einfalt und Eile gegenseitig. In diesem instabil gewordenen Wettlauf von Problemlösung und Problemerzeugung scheint es kein Halten mehr zu geben.

Die irdische Schöpfungsgeschichte konnte erst mit dem Menschen in diese Krise geraten. Ich habe sie die „globale Beschleunigungskrise“ genannt. Die Untergangssymptome in Biosphäre und Gesellschaft zeigen uns: Unsere Zeit ist die singuläre Stelle in der irdischen Geschichte, an der die kritischen Grenzen des „Großen und Schnellen“ erreicht werden. Dies mußte irgendwann geschehen – und wir sind es, die es trifft. Aber Krise heißt nicht Untergang, sondern Entscheidung. Die Systemlogik zeigt: Die innere Zeitskala der globalen Instabilität ist ein Menschenalter. Wir und unsere Kinder werden also die Entscheidung treffen.

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Die Krise war nicht vor ihrem Höhepunkt überwindbar, wenn auch seit Jahrtausenden so viele die „Unmenschlichkeit“ des Rennens um Lebensgrundlagen erkannten. Erst die Globalisierung, die ein weiteres Abschieben der Ausbeutung und anderer Probleme nach außen endgültig verhindern wird, eröffnet die Möglichkeit, diese Konkurrenz durch gemeinsames Handeln zu beenden. Natürlich wird auch weiterhin Konkurrenz der Motor des Fortschritts sein. Ja – es ist wahr: Wir brauchen mehr Wettbewerb! – Aber an einer ganz anderen Front als heute! Es darf nicht weiter um Aneignung fremder Lebensgrundlagen gerungen werden. Vielmehr müssen gerade diese durch gemeinsame Anstrengung für alle geschaffen und gesichert werden.

Wenn Menschen wissen, daß sie künftig nicht mehr darum ringen müssen, einander etwas wegzunehmen, dann dämmert endlich der siebte Schöpfungstag. Nicht etwa jener achte, dessen Anbruch der jetzige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft vor 10 Jahren in seiner Begeisterung verkündete, als er den Gen-Pool aller lebendigen Arten vor sich sah. Die Front im Reich der Möglichkeiten, an der wir nun aufbrechen werden, ist nicht die der technischen Weltverbesserung. Wo Gott sah, daß es sehr gut war, da dürfen auch wir zufrieden sein. Bei eiligem Streben nach Verbesserung kann die Komplexität der Biosphäre und der biologischen Gestalt des Menschen nur verschlechtert und gar zerstört werden. Wohl aber gibt es Bereiche, in denen wir schnell vorankommen können und dürfen – sogar nahezu mit der kritischen Innovationsgeschwindigkeit: nämlich in der individuellen seelisch-geistigen Entwicklung und in der gesellschaftlichen Selbstorganisation unserer Freiheit. Der Aufbruch an dieser „Front des siebten Tages“ hat längst begonnen.

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Hier ist zweifellos noch ein Anhang erforderlich. Es muß natürlich die Frage gestellt werden (und oft wird sie sehr böse gestellt), wie denn nun konkret die Machtkonkurrenz überwunden werden sollte. Ist nicht Macht geradezu definitionsgemäß etwas, was nur durch noch größere Macht überwindbar ist? Schließlich ist noch nicht einmal die militärische Konkurrenz wirklich überwunden – und wenn etwa irgendwo doch, dann nur, weil sich eben der Wirtschaftsimperialismus als letztlich rationeller erwies als die Eroberung durch Waffengewalt.

Dies ist aber gerade das Entscheidende: Im Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise wird klar, daß die organisatorische Überwindung der Konkurrenz um Lebensgrundlagen auch im gewohnten Sinn rationeller wäre. Sie ist nicht mehr Traum oder religiöse Utopie. Fast alle, sogar die heutigen Repräsentanten der Macht, hätten mehr Vorteile als Nachteile davon.

Es wären nicht etwa gewaltige Umstürze erforderlich. Relativ kleine regulierende Eingriffe an einigen Hebelpunkten, vor allem im Geld-, Eigentums- und Steuerrecht würden genügen, um die ganze Menschheit, „fast von allein“, in einen menschenwürdigeren Zustand kippen zu lassen. Es muß nur zunächst die Zwangsvorstellung aus den Köpfen vertrieben werden, daß Machtkonkurrenz zwischen Menschen gewissermaßen naturgesetzlich unvermeidbar sei und sich daher auch nicht durch Zusammenarbeit behindern lasse.

Das Umkippen wird ähnlich geschehen, wie wir es von „Phasenübergängen“ in sehr viel simpleren Systemen kennen: Bei der Annäherung an einen „kritischen Punkt“ lassen lokale Gegebenheiten an irgendeiner Stelle zuerst deutlich werden, daß die bisher attraktiven Leitideen nicht mehr weiterführen. Es treten verstärkt Probleme auf, die zu heftigerem Gezappel führen. Beim damit verbundenen Abtasten benachbarter Möglichkeiten findet die Wirklichkeit in den Einzugsbereich einer weiterführenden Idee, deren innere Organisation das Zappeln so weit dämpft, daß sie nicht so leicht wieder verlassen wird. Die Stelle, an der dieser Übergang gelungen ist, wird dann zur Keimzelle, von der aus das gesamte System, das ja ebenfalls dem kritischen Punkt nahe ist, zum Umkippen in die neue lebensfähigere Gestalt angeregt wird.

Die Wirklichkeit, um die es nun geht – das Geschehen in 6 Milliarden Menschenhirnen – ist unvorstellbar komplex, und so können wir nicht ahnen, wo und wann der Selbstorganisationsprozeß einsetzt, der durch die globale Beschleunigungskrise hindurchführt. Die Keimzelle wird sicherlich nicht in den weltweiten Verhandlungen zwischen Regierungsbeamten und „global players“ entstehen, denn dort klammert man sich weiter an die zusammenbrechenden Ideen.

Vorstellbar scheint mir aber, daß unter dem Eindruck der sich nun überschlagenden Frechheit des globalen Finanzkapitals in einigen kleineren hochentwickelten Ländern die öffentliche Meinung in Bewegung gerät und der Aufbruch an der Front des siebten Tages beginnt. Reiche kleine Völker könnten vielleicht als erste begreifen, daß sie nicht notwendig miteinander in Konkurrenz stehen – und schon gar nicht mit fernen Ländern auf der anderen Seite der Erde. Mit der Einführung eines neuen Geldsystems und der Beschränkung gewisser Eigentumsrechte könnten sie anfangen, gemeinsam den Ausstieg aus diesen Zwängen zu organisieren und den Übergang zu einer vernünftigeren Verfassung einzuleiten. Warum sollte das nicht in Europa beginnen, sobald noch deutlicher geworden ist, daß der jetzige Kurs abwärts führt? In Europa sind ja auch die meisten Ideen der Neuzeit entdeckt worden, die zum kritischen Punkt treiben mußten und nun an ihr Ende kommen.

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Notwendige Schritte, zu einer lebensfähigeren Verfassung der Menschheit sind gedanklich schon lange vorbereitet. Auf längere Sicht wird eine politische Weltverfassung den „Vereinten Nationen“ und ihren regionalen Unterorganisationen das Monopol für internationale Gewalt geben und den Bestand aller ihrer Mitglieder garantieren (nachdem vermutlich die größten sich in mehrere kleinere aufgeteilt haben). Nationale Streitkräfte gibt es dann nicht mehr. Aber auch die Entartung der wirtschaftlichen Konkurrenz hört auf, weil die Aneignung fremder Lebensgrundlagen verfasungsmäßig ausgeschlossen sein wird. Der Weltmarkt wird dann eine ziemlich unwichtige Rolle spielen, und die Nationen werden sich – wie auch Individuen – viel mehr um ihre „häuslichen Angelegenheiten“ kümmern – übrigens auch in ihren eigenen Sprachen.

Damit dies nicht so abstrakt bleibt, füge ich hier noch in Stichpunkten an, wie man sich die neuen Verfassungen in einigen Details vorstellen kann. Die Weltverfassung dürfte etwa folgende gemeinsame Prinzipien für nationale Verfassungen empfehlen (und größere Abweichungen davon behindern):

— Erste Voraussetzung für die gemeinsame Sicherung der Lebensgrundlagen aller Bürger ist eine gerechte Verteilung leistungsloser Einkommen – vor allem an jene, die noch nicht oder nicht mehr arbeitsfähig sind. Im übrigen wird diese gesellschaftliche Aufgabe aus Steuermitteln erbracht.

— Steuern sind ausschließlich auf Aktivitäten und Produkte zu erheben, die als schädlich für Natur und Gesellschaft begriffen sind (z.B. von einer Zweidrittelmehrheit). Das bedeutet: einerseits „Größenbegrenzungssteuern“ – zur Begrenzung der Größe von Eigentum an Lebensgrundlagen – und andererseits verallgemeinerte Ökosteuern („Entropiesteuern“). Ein simples Beispiel: Schon mit 25 Pfennig pro Kilowattstunde Primärenergie käme mehr in den Steuertopf, als mit allen heutigen deutschen Steuern! Aber natürlich gäbe es auch später, nach Rückgang der Energieverschwendung, stets eine ausreichende Steuerbasis, denn jede Zivilisation richtet unvermeidlich Schäden an.

— An die Stelle des hergebrachten Geldes, das das Anwachsen der Vermögen durch Zins und Zinseszins gestattet, ja erzwingt, tritt ein „neutrales Geld“, bei dem sich das reine „Haben“ nicht rentiert. Eben deshalb wird es stets umlaufen und verfügbar sein, um auf dem freien Markt wirkliche Leistung zu belohnen. Seine Wertbeständigkeit müßte noch besser als heute durch Zentralbanken gesichert werden, so daß auch ohne Zinsgewinn das Sparen in vernünftigem Rahmen (z.B. das Verleihen von Geld über Banken an „Jungunternehmer“) sinnvoll bliebe.

— Ein Arbeitslosenproblem gibt es nicht. Das „Bürgergeld“, also ein leistungsloses Grundeinkommen für jeden, deckt die Grundbedürfnisse ab – natürlich vorzugsweise für Kinder, Kranke und Alte. Da aber fast jeder danach streben wird, sich mehr leisten zu können (z.B. eine schönere Wohnung), entsteht ein freier Arbeitsmarkt, auf dem viele heute brachliegende kreative Kräfte angeboten und nachgefragt werden. Beschränkt ist dieser Markt allein durch die Größenbegrenzungs- und Entropiesteuern.

— Das so entstehende Wirtschaftsleben hätte in mancher Hinsicht durchaus Ähnlichkeit mit einem „bürgerlichen Kapitalismus im Kleinen“, jedoch ohne die unbegrenzten Wachstumszwänge und mit erheblich mehr Freiräumen für die höheren menschlichen Fähigkeiten. Theater würden nur so aus dem Boden schießen. Es gäbe Schulgeld und Studiengebühren, die freilich zunächst Bestandteil eines aus Steuern finanzierten allgemeinen „Bürgergeldes“ und „Erziehungsgeldes“ wären und später, für Fortgeschrittene, durch Stipendien und Darlehen gegen Leistungsnachweise gedeckt würden. Freie Schulen und Universitäten würden dann um Studenten und Professoren konkurrieren.

— Auch Wissenschaft und Technik werden eine andere Rolle spielen als heute. Große Abenteuer sind mangels der Möglichkeit großen Machtgewinns nicht mehr wahrscheinlich. Selbst in Bereichen, wo eine relativ hohe Innovationsgeschwindigkeit nicht gleich katastrophale Folgen haben muß (z.B. im Internet) würde die Motivation zum immer rascheren Voranstürmen wahrscheinlich geringer. Dafür wird es mehr Grundlagenforschung geben – mit tieferem Nachdenken über fundamentale Fragen der Wissenschaft. Hier läßt zwar ebenfalls jede Problemlösung mehrere neue Probleme sichtbar werden, doch können unter diesen nicht Biosphäre und Kulturen zusammenbrechen.