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Zeit zum Aufstehen

Anmerkungen zur Überwindung der globalen Beschleunigungskrise

Stark erweiterte Bearbeitung des freien Redebeitrags beim Symposium "Gesellschaft und Bildung im 21.Jahrhundert" des Hessischen Kultusministeriums am 10. Oktober 1997 in Wiesbaden

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1. Unerhörter Weckruf?

Noch so guter Wille kann offenbar nicht verhindern, daß die gesellschaftlichen und ökologischen Probleme immer schneller anwachsen. Auch das Abschieben der Verantwortung auf höhere Ebenen scheint alles eher noch schlimmer zu machen. Das zwingt uns, über die Fundamente der menschlichen Gesellschaft neu nachzudenken. Es müssen wohl wesentliche Leitlinien der Moderne sein, die uns in innere Widersprüche und ins Chaos führen. Die verbreitete Resignation und Verdrossenheit entspringt der Ahnung, daß selbst auf die verfassungsmäßige Grundordnung kein Verlaß mehr ist. Wie sollten wir denn aus dem gewaltigen, raffinierten Geflecht politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ideen herausfinden, die nun alle Welt erobert haben und doch so offensichtlich nicht mehr lebensfähig sind? Drohen wir uns nicht nur immer stärker darin zu verheddern – es sei denn, es gelänge, "das ganze System" loszuwerden?

"Radikale Systemveränderung" erscheint nach den geschichtlichen Erfahrungen so unvorstellbar, daß keine Aufbruchsstimmung mehr aufkommen mag. Die Verzagtheit wird nur zu überwinden sein, wenn ein tragfähiges Fundament sichtbar wird, das ohne tiefen Fall erreichbar ist. So gehört zu den Bildungszielen des nächsten Jahrhunderts zunächst ein gewissermaßen "fundamentalistischer" Ansatz für die Selbstorganisation unserer Freiheit. Noch mehr als seinerzeit bei der Überwindung der Sklaverei oder der Adelsprivilegien werden dabei heiligste Denkgewohnheiten zu revidieren sein. Lassen Sie mich das Unerhörte gleich zu Beginn aussprechen: Die immer schnellere, global gewordene Konkurrenz um Lebensgrundlagen muß überwunden werden. Und dazu gehört die Überwindung des Aberglaubens ans Gottesgnadentum des in fremde Lebensgrundlagen investierten Eigentums.

Selbst Repräsentanten und Diener der Macht spüren, daß Gesellschaft und Biosphäre am Abrutschen sind. Bis in ihre Festreden hinein leiden sogar die Sensibleren unter den Politikern durchaus an der eigenen Mitwirkung als Schmiermittel. Nur empfinden fast alle das Geschehen als praktisch zwangsläufig. Die Macht organisiert sich heute vor allem durch den Aberglauben, es handle sich hier um quasi naturgesetzliche Abläufe. So erscheint es aus der Sicht der gegenwärtigen Realität als unrealistisch oder utopisch, den Untergang durch Übergang zu etwas ganz anderem ersetzen zu wollen. Den sogenannten Realisten fehlt bekanntlich der Möglichkeitssinn. Wecken wir ihn durch einen Blick auf die Geschichte – die Schöpfungsgeschichte.

Als hier vorhin mehrfach das Schlagwort Innovation anklang, fiel mir wieder ein, wie vor fast zehn Jahren Ernst-Ludwig Winnacker, führender deutscher Genforscher und demnächst neuer Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Anbruch des achten Schöpfungstages verkündete. Wo eben noch das Bild langsam und vorsichtig im Ton knetender Hände für den Schöpfungsprozeß stand, da erscheint jetzt das Bild flinker Finger, die um die Wette an einem Kartenhaus bauen. Ja – wie funktioniert eigentlich Wertschöpfung? Kann sie – trotz des so offensichtlichen, wunderbaren Aufstiegs seit dem Urknall – auch schiefgehen? Wann führt der Fortschritt wahrscheinlich aufwärts – zu lebensfähiger, entwicklungsfähiger Gestalt? Und wann wahrscheinlich abwärts – zum Zusammenbruch? Gibt es hierfür logisch einsichtige Bedingungen?

Es ist verblüffend, wie wenige von uns diese Frage stellen oder auch nur zulassen wollen. Mich bewegte sie seit der Kindheit. Die Anzeichen allgemeinen Wahnsinns waren ja unübersehbar [Anmerkung: P. Kafka ist Jahrgang 1933]. Da ich später auch als Astrophysiker über den Schöpfungsprozeß nachzudenken hatte, mußte ich noch weiter unten, an den Wurzeln, anfangen. Ich kam auf ziemlich einfache Antworten und habe mich überzeugt: Die "Systemtheorie von Gott und Teufel" läßt sich auch im wissenschaftlichen Weltbild so formulieren, daß sie selbst Kindern zu vermitteln ist. Deshalb hoffe ich: Die nächste Generation wird die Wahnideen hinwegfegen, die heute die Menschheit an die Wettspiele der Kartenhausbauer fesseln.

Bei Kindern mögen sogar zwanzig Minuten ausreichen, um das Wesentliche klarzumachen. Bei gebildeten Leuten natürlich nicht. Da wäre zu viel Gedankenschutt wegzuräumen. Aber wenigstens an die Wissenschaft glauben Sie doch alle. So will ich aus wissenschaftlicher Sicht kurz ans Schöpfungsprinzip und ans Wesen der globalen Beschleunigungskrise erinnern. Auch wir selbst sind ja offensichtlich Teil der materiellen Welt in Raum und Zeit, mit der sich die Wissenschaften beschäftigen. Wie also findet diese sogenannte Wirklichkeit ihren Weg in der unermeßlich großen Menge an Möglichkeiten – seit etwa 15 Milliarden Jahren insgesamt aufwärts – zu immer komplexeren, raffinierteren Gestalten? Welche Prinzipien stehen dahinter?






2. Schöpfungsprinzip

Wir sind uns heute ziemlich sicher: Die Welt begann mit fast nichts, vielleicht mit "Vakuumfluktuationen", wie es die Physiker nennen. Am Anfang stand wohl der einfachste denkbare Zustand. Da ist alles Eins, ohne jede detaillierte Struktur, so dicht und gleichmäßig zusammen wie möglich, und alles fliegt so gleichmäßig wie möglich auseinander. Aus diesem simpelsten möglichen Zustand ist nun geworden, was wir unser Weltall nennen. Dazu gehört unser Milchstraßensystem, unsere Sonne, die Erde, ihre Biosphäre, die Gesellschaft – und das, was hier und jetzt in unseren Köpfen geschieht. Merkwürdig, nicht wahr? Wie kam das alles?

Nicht nur die moderne Physik lehrt uns: Die Wahl der Wirklichkeit unter den unermeßlich vielen Möglichkeiten hängt von Zufällen ab. Hätte meine Mutter nicht den Zug verpaßt und wäre sie dann nicht mit einem anderen zu spät Gekommenen am Bahnsteig ins Gespräch gekommen, so stünde ich nicht hier. Und auch einiges andere wäre offensichtlich anders gelaufen. Der Zufall spielt eine entscheidende Rolle. Wie konnte ein solches Schöpfungsprinzip die Welt dennoch so offensichtlich insgesamt ständig aufwärts klettern lassen? Verstehen wir das?

Ja, wir verstehen das heute. Der Zufall ist in den Gesetzen der Natur eingebaut – er ist sogar, gewissermaßen, die einzige Notwendigkeit. Alle Wirklichkeit muß ständig herumzappeln, und eben dadurch tastet sie ihre Nachbarschaft im Raum der Möglichkeiten ab. Werden dabei Gestaltmöglichkeiten berührt, in denen die Dinge ein bißchen besser zusammenpassen, so wird wahrscheinlich an dieser Stelle weitergegangen – und nicht bei anderen Möglichkeiten, die auch berührt, aber wieder verlassen wurden, weil sie eben nicht so "gut", nämlich nicht so überlebensfähig waren. "Wahrscheinlich überlebt Überlebensfähigeres" – oder, noch krasser tautologisch: "Wahrscheinlich geschieht Wahrscheinlicheres". Logische Selbstverständlichkeit ist das Prinzip der Schöpfung. Nichts als Tautologie ist es, was die Welt im Raum der Möglichkeiten "aufwärts" finden läßt.

Unermeßlich ist der Gestaltenreichtum in diesem Raum, den wir auch das "Reich der Ideen", die "geistige Welt" oder den "Himmel" zu nennen gewohnt sind. Verwirklicht aber wird nur das, was die Wirklichkeit findet. Sie zeichnet eine Linie in diesen unendlich-dimensionalen Raum. Deren jeweils gegenwärtiges Ende ertastet Gestalten in immer neuen Dimensionen. Die "Länge" dieser Linie erfahren wir als Zeit. Sie begann im simplen Urknall. Der Weg ist nicht vorherbestimmt. Auch sind die naturgesetzlich ausgezeichneten Gestalten nicht etwa exakt verwirklichbar. Nicht einmal das Proton, Grundbaustein der Materie, lebt ewig. Wo immer die Wirklichkeit hingelangt, gibt es wiederum Übergangswahrscheinlichkeiten, und im Rahmen der jeweiligen Wahrscheinlichkeitsverteilungen entscheidet das Geprassel der Zufälle, wohin die Geschichte weiterläuft. Sind aber Gestalten zu finden, in denen "die Dinge besser zusammenpassen", weil innere und äußere Organisation die Reichweite des weiteren Zappelns beschränken, dann werden wahrscheinlich diese Gestalten die Wirklichkeit stärker anziehen. Aus ihrem Einzugsbereich ist nicht so leicht wieder herauszuspringen.

Schauen wir die Welt an: Lauter zyklische Attraktoren im Raum der Möglichkeiten, in deren Nähe die Wirklichkeit sich im wesentlichen ständig wiederholt. Und doch muß sie dabei durch immer neue zufällige Wechselwirkungen in vielen kleinen Variationen ausprobieren, ob nicht noch zuverlässigere Attraktoren in der Nachbarschaft liegen. Erst nach genügend langem Ausprobieren heißt es dann am Abend eines Schöpfungstages: Und siehe da, es war sehr gut. Das heißt: Es sind Gestalten gefunden worden, von denen die Wirklichkeit lange nicht wieder loskommt. Solche Bewährungsfähigkeit kann, wie gesagt, natürlich nur darin liegen, daß die innere Gestaltorganisation das Gezappel kleiner werden läßt, oder daß die Einbettung im Raum der Möglichkeiten dem Verlassen des Einzugsbereiches höhere Schwellen in den Weg legt. Dies ist das Wesen gelungener Gestalten. Wieder nichts als Tautologie...

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Wenn aber der Tag vorbei und "alles sehr gut" ist, nämlich alles zuverlässigen quasizyklischen Attraktoren folgt, geht es dennoch am nächsten Tag weiter. "Höhere Dimensionen" werden eröffnet. Gerade das nunmehr beschränkte Zappeln führt offenbar weiter aufwärts, zu noch höherer Komplexität. Der "neue Schöpfungstag" bedeutet, daß nun mit schwächeren Wechselwirkungen weitergetastet wird – mit solchen nämlich, die es gerade nicht schaffen, die bewährten Prinzipien der gelungenen Gestalten vorangegangener Schöpfungstage zu durchbrechen. Nur mit schwächeren Wechselwirkungen ist am neuen Tag wahrscheinlich noch höhere Komplexität zu finden. In der Fülle des Reichs der Ideen bieten sich hierfür noch umfassendere Gestalten an, in denen aber die zuvor erreichten nicht etwa aufgegeben werden, sondern gesichert und noch raffinierter miteinander verflochten werden. Das ist die Schöpfungsgeschichte, vom ersten Tag an bis hin zu uns selbst, zum seelischen und kulturellen Tasten.

Wer über den Begriff der Komplexität nachgedacht hat, merkt sicherlich, wo ich hier geschwindelt habe: Es gibt natürlich Situationen, in denen "immer besseres Zusammenpassen" immer mehr Simplizität bedeutet. Denken wir nur an die einfachsten Typen von Instabilität – etwa den Kollaps einer riesigen Masse unter ihrer eigenen Schwerkraft, der es nicht gelingt, den globalen Schwung in Vorgänge auf kleineren Skalen umzulenken, also etwa die Gestalttypen von Milchstraßen oder Sternen zu erreichen. Dann entsteht ein "Schwarzes Loch", geradezu das Paradigma der Einfachheit, vollständig gekennzeichnet durch höchstens drei Zahlen – im unendlich-dimensionalen Raum der Möglichkeiten also "ganz unten", wie die Ursprungsidee unseres Universums, der Urknall.

Daß eine solche Annullierung der Ergebnisse aller Schöpfungstage nicht universell geschieht, jedenfalls nicht für viele weitere Milliarden von Jahren, dafür sorgt eben die Ursprungsidee. Lokal aber kommt solcher Absturz natürlich vor, wenn auch meist nicht bis "ganz unten". Das Reich der Ideen sorgt durch seine innere Struktur dafür, daß eine "Aufwärtsdiffusion" zur Verwirklichung höherer Komplexität prinzipiell wahrscheinlich ist. In Fachsprache: "An den Strömen zwischen den am ersten Tag geschaffenen Energiequellen und Entropiesenken wurden praktisch unendlich viele dissipative Gestalten abgetastet – und in hochdimensionalen Räumen geht es in fast allen Punkten in vielen Richtungen aufwärts".

Aber ist darauf auch für uns selbst Verlaß? Die Frage, die nun so viele von uns bewegt, ist doch gerade: Wird die Entwicklung im Raum der Möglichkeiten unserer Erde zurückfallen oder weiter "aufwärts" führen? Können wir das überhaupt unterscheiden? Bedeuten womöglich gerade die globale Vereinheitlichung und Beschleunigung, daß wir in eine Instabilität geraten sind? Sind wir auf dem Weg zur Hölle – mit wie guten Vorsätzen und Bildungszielen er auch gepflastert sein mag? Ist nicht etwa die Menschheit dabei, die höchsten bisher erreichten Dimensionen, die Noosphäre – das Reich bewußten Geisteslebens – mittels immer raffinierterer und doch oft schrecklich dummer Techniken wieder zu verlassen und dabei sogar die oberen Stockwerke der Biosphäre mit einzureißen?






3. Globale Beschleunigungskrise

Mit dem Menschen ist ein Problem aufgetaucht. Das bemerkten schon die Alten, und so kommt es in den Schöpfungsmythen vor: Der evolutionäre Selbstorganisationsprozeß kann auch bei uns selbst schiefgehen und "abwärts" führen – aber dann fühlen wir uns merkwürdigerweise dafür verantwortlich. Was mag das bedeuten? Auch an früheren Schöpfungstagen ist doch im einzelnen fast alles schiefgegangen, ohne daß es uns deshalb einfiele, von Schuld zu sprechen. Fast jeder Versuch in all dem "Gezappel" erwies sich als Irrtum und wurde wieder verlassen. Und doch war wegen der gewaltigen Menge unabhängiger Versuche stets die Wahrscheinlichkeit groß genug, daß "Höheres" gefunden wurde und sich auf längere Sicht bewähren konnte, ohne die Ergebnisse früherer Tage zu gefährden. Die chemische Entwicklung experimentierte nicht mit Elementarteilchen und Kernkräften, das Lebendige nicht mit neuen genetischen Codes, bei der Entfaltung der Organismen wurde nicht das Prinzip der Zelle verlassen, das aufsteigende Bewußtsein änderte nicht das Wesen der Organe, die Kulturentwicklung nicht die "angeborenen Verhaltensweisen"...

Erst gegen Ende des sechsten Tages taucht dann jene bekannte Gestalt auf, der Engel Luzifer, der Lichtbringer. Er hat gesehen, wie das alles funktioniert – die Elementarteilchen, die Chemie, der genetische Code, die Organe, das Gehirn, der Markt, die Werbung... Alles verstanden, bis ins Detail. Und da sagt er sich: Wieso soll ich denn so lange warten? Das geht doch viel schneller! – Bekanntlich ist er dann gefallen, hat seitdem einen anderen Namen, heißt nicht mehr der Lichtbringer, sondern der Durcheinanderwerfer – Diabolos.

Warum kommt der Teufel erst am sechsten Tag – erst mit dem Menschen? Ganz klar: Auf den Niveaus früherer Tage waren die Anführer an der Front der Evolution nicht fähig, aus eigener Kraft das Ganze global untergehen zu lassen. In der vormenschlichen Biosphäre war das praktisch unmöglich. Nur gewaltige kosmische Unfälle hätten das Leben ausrotten können. Im Reproduktionsprozeß des Lebendigen muß ja jede Innovation ungeheuer lange geprüft werden, bevor sie sich durchsetzen kann. Wenn ein kleiner Schaden an einem Gen einer Ei- oder Samenzelle passiert, und nun irgendein Enzym eine leicht veränderte Struktur hat, so wird generationenlang ausprobiert, ob dies nun im Zusammenhang der ganzen Art und im Wechselspiel aller Arten und mit der gesamten Umwelt besser zusammenpaßt oder nicht. Deshalb führte der biologische Weg aufwärts, zu immer reicherer Komplexität. Von den Sedimentgesteinen bis zur Ozonschicht an der Atmosphärengrenze – Gaia, wie die Erdgöttin, nennt man das Ganze heute gern – alles ein raffiniert zusammenpassendes Werk vielfältigen, allmählichen Tastens des Lebens – bis jenes Tasten das Reich der Großhirnmöglichkeiten eröffnete.

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Allmählich? Was soll das heißen? Langsam im Vergleich wozu? Das Innovationstempo muß doch zwangsläufig steigen. Schnelleres Voranstürmen im Raum der Möglichkeiten hat logischerweise einen selektiven Vorteil, solange es noch nicht in den Untergang geführt hat. Evolutionärer Fortschritt besteht deshalb, unter der Lupe betrachtet, aus lauter lokalen Revolutionen, die sich stürmisch auszubreiten suchen und dabei fast alle scheitern, bis doch einmal Lebensfähigkeit auf größerer Skala erreicht ist. Für wie lange aber? Was schneller zappelt, tastet und findet, definiert eben dadurch die Front im Raum der Möglichkeiten. Es bestimmt damit den weiteren Weg der gesamten Wirklichkeit, soweit sie bei dieser Fortschrittsgeschwindigkeit zusammenhängt. Schon in der biologischen Evolution nimmt die Geschwindigkeit zu, und das Lebendige formt dabei die Haut der ganzen Erde. Und doch kann dies, wie gesagt, noch immer nicht schiefgehen – obwohl schon hierbei global zu den "höchsten Ideen" übergegangen wird.

Beschleunigte Innovation und Organisation in größerem Maßstab hängen ja eng zusammen. Ihre selektiven Vorteile verstärken einander – bis zu globaler Einfalt und Raserei, die freilich erst mit der technischen Evolution verwirklichbar wurden. Berittene Heere und Botensysteme schafften es noch nicht ganz. Erst mit moderner Wissenschaft und Technik war der kritische Punkt der Weltgeschichte zu erreichen, den wir selbst darstellen.

Die systemtheoretisch unausweichliche Tendenz zu globaler Vereinheitlichung und beschleunigter Innovation bedeutet, daß evolutionärer Fortschritt in einem hinreichend isolierten räumlichen Bereich schließlich aus eigener Kraft in eine Krise führen muß. Ich habe sie die "globale Beschleunigungskrise" genannt. Logischerweise gibt es nämlich räumlich und zeitlich kritische Grenzen. Räumlich ist das klar: Die Erde ist rund. Globaler kann's nicht werden. Erst kürzlich haben wir gefeiert, daß vor 500 Jahren unsere fixesten Ideen den ganzen Globus übernahmen. Für sich allein war das offenbar noch nicht kritisch. Aber nun ging's immer schneller, global immer schneller. Selbst bei diesem Symposium hören wir wieder, wir müßten endlich die Hindernisse für schnelleren globalen Fortschritt aus dem Weg räumen. Wer wird da über eine kritische Grenze der Innovationsgeschwindigkeit sprechen wollen? Das erscheint den Anführern noch immer als Defätismus, ja geradezu als Hochverrat am Abendland.

Auch diese Meinungsführer erleben natürlich die immer rascher entstehenden Probleme. "Aber das kriegen wir alles wieder in den Griff", sagen sie. "Wir brauchen nur weitere Vereinheitlichung und schnellere Innovation". Lösen wir doch ein Problem, wenn es auftaucht! – Wahrscheinlich haben wir dann zwei oder zehn neue Probleme dafür – nicht wahr? Dann laßt uns doch auch diese lösen! Und schon haben wir vier, oder hundert. Und die neuen Probleme sind meist weitreichender, noch globaler, sozusagen, und sie bedürfen noch rascherer globaler Lösung. Eine neue Schlüsseltechnologie, oder besser, ohne die umständliche Fummelei an Schlössern, gleich ein Durchbruch – und schon öffnen sich riesige neue Bereiche im Raum der Möglichkeiten, in die hinein alle Welt voranstürmen kann! Und voranstürmen muß man, weil das Hinterland bereits verwüstet ist. Am besten also ganz abheben, in Flug übergehen, immer schneller... aufwärts natürlich, nicht wahr? – Leider zeigt die Logik des Schöpfungsprinzips: Solcher Flug müßte in freien Fall übergehen.

Wo ist die kritische Grenze? Natürlich dort, wo zu rasche Innovation keine Zeit zur Bewährung läßt. Alle gelungenen Gestalten sind zyklischer Natur. Da geschieht in jedem "Reproduktionszyklus" im wesentlichen das Gleiche – trotz ständiger kleiner Abweichungen durchs allgemeine Gezappel. Diese können das Ganze nicht rasch aus dem Einzugsbereich seines "zyklischen Attraktors" herausspringen lassen. Dies eben definiert einen Attraktor – vom Kreisen der Elementarteilchen in einem Atom bis zum Generationenzyklus des Menschen in seiner Kultur. In uns freilich auf so unermeßlich viel höherem Komplexitätsniveau, daß die Übergangswahrscheinlichkeiten nicht einmal berechenbar wären, wenn alle Materie der Welt zu einem Supercomputer verarbeitet wäre und dieser viele Weltalter lang rechnete. Berechnen lassen sich nur einfachste Gestalten des ersten Tages – in meinem Institut versucht man zum Beispiel seit Jahren, in den größten Computern die Galaxienentstehung nachzuahmen.

Und doch können wir aus der simplen Logik des Schöpfungsprinzips einen zuverlässigen Schluß ziehen: Wird der Fortschritt im Raum der Möglichkeiten so schnell, daß die führenden Gestalten ihre Attraktoren verlassen, bevor sie auch nur "einmal herum" sind, so ist die Wahrscheinlichkeit, aufwärts zu finden, praktisch Null. Es kann dann nicht nur bei den Anführern selbst, sondern auch in ihrer "Umwelt" bald nichts mehr zusammenpassen. Vielleicht sagt Ihnen das schon die eigene Intuition und Erfahrung: Die kritische Grenze ist überschritten, wenn fast alle in der Mitte des eigenen Lebens nicht mehr wiederfinden, was sie kennen und lieben gelernt haben, und wenn sie ihren Kindern nicht sagen können wie es weitergehen soll. – Es ist so weit.

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Was soll und darf ich tun? Die Theorie unseres Tuns nennen wir Ethik. Das Wort kommt vom griechischen ethos, das heißt Gewohnheit. Bewährung bedeutet, daß lange Zeit hindurch etwa das Gleiche getan wird. Und warum? Weil es dann gutgeht. Bei zu raschen, zu großen Abweichungen geht es eben schief – und wenn der völlige Untergang noch vermeidbar ist, kehrt man in die Nähe des Bewährten zurück. Und doch sagen Theorie und Erfahrung: Die kritische Innovationsgeschwindigkeit muß schließlich global erreicht und überschritten werden – und unsere Zeit ist es, in der dies geschieht! Wir selbst verkörpern diese singuläre Epoche in der Erdgeschichte: die globale Beschleunigungskrise.

Krise heißt Entscheidung, nicht Untergang. Die Einsicht ins Wesen der Krise zeigt, was im weiteren Selbstorganisationsprozeß geschehen muß, damit es weiter aufwärts gehen kann: Die logischen Voraussetzungen wirklicher Wertschöpfung müssen wiederhergestellt und verfassungsmäßig gesichert werden. Ich habe diese "Bedingungen des Fortschritts" oft mit den Schlagworten "Vielfalt und Gemächlichkeit" charakterisiert. Es scheint zunächst absurd, daß diese nun offensichtlich in Eile und global verwirklicht werden müßten – aber das ist kein innerer Widerspruch. Eine globale Instabilität gibt selbstverständlich durch ihr eigenes Wesen die kritische Zeitskala vor, und nur innerhalb dieser bis zum Aufprall verbleibenden Zeit ist ihr noch zu entkommen. Die flußabwärts spurtenden Rennruderer, die endlich den Wasserfall wahrnehmen, müssen noch vor ihm ans Ufer gelangen. Am Höhepunkt der globalen Beschleunigungkrise ist die verbleibende Zeit etwa eine menschliche Lebensdauer. Deshalb hat die hier skizzierte "Systemtheorie von Gott und Teufel" etwas mit "Bildungszielen des 21. Jahrhunderts" zu tun. In dessen Mitte wird die Entscheidung gefallen sein.

Am Höhepunkt der Krise Prognosen zu machen, wäre unsinnig. Man fragt mich immer, ob ich Optimist oder Pessimist sei. Welch absurde Frage, solange noch Rettung in Sicht ist! Es gilt, mit aller Kraft gegen den Untergang zu arbeiten. Selbstverständlich gibt es im Raum der Möglichkeiten lebensfähigere Gestalten als die gegenwärtigen Organisationsformen der Menschheit. Wer glaubt, das Reich der Ideen sei erschöpft, den möchte ich wieder daran erinnern, daß schon für vierundzwanzig Punkte, zwischen denen man jeweils einen Strich zieht oder nicht, die Anzahl verschiedener möglicher Beziehungsmuster größer ist als die Zahl der Atome im beobachtbaren Weltall. An Möglichkeiten herrscht kein Mangel – und sicher auch nicht an möglichen Wegen. Aber wie finden wir nun einen?

Jetzt muß ich doch etwas "Optimistisches" sagen: Um in bessere Verfassung zu kommen, sind nicht gewaltige Sprünge oder Durchbrüche nötig. Besseres liegt ganz in der Nachbarschaft, in Reichweite der Arbeit einer Generation, denn menschliches Denken und Fühlen zappelt seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden ganz in seiner Nähe. Züge solcher besserer Gestalten sind in den Programmen fast aller religiösen Strömungen und politischen Parteien deutlich erkennbar. Nur paßt alles noch nicht so recht zusammen An die Arbeit also!


















4. Das Rennen
(oder: difficile est satiram non scribere)

Daß irgend etwas kritisch geworden ist, sagen ja alle – aber dank unserer konservativen evolutionären Ausstattung bemühen wir uns meist auch dann noch um Treue zu den gängigen gesellschaftlichen Leitideen, wenn in diesen fast nichts mehr zusammenpaßt, und fast nichts mehr geht. Was ist los mit der sogenannten Wirtschaft? Wachstum, Arbeit, Geld... Was fehlt uns eigentlich? Führende Wissenschaftler und Politiker sehen nicht, was jedes Kind sehen kann (sogar, wenn es nur fernsieht): Die sogenannte Wirtschaft ist ein Popanz. Ökonomische Lehrbücher mögen fehlerfrei sein – und sind doch grundfalsch. Sozusagen schon vor der ersten Seite sind entscheidende Fehler passiert. Die Grundbegriffe enthalten fatale innere Widersprüche.

Sehr deutlich wird dies auch in den pädagogischen Reden des Bundespräsidenten sichtbar, der glaubt, uns für die globale Konkurrenz fitter machen zu müssen. Wie beeindruckt er aus Asien zurückkam! Die Wolkenkratzer und die Wachstumsraten! An Indonesien und Malaysia sollen wir uns ein Beispiel nehmen. Ist das nicht, als tadelte ich meinen Achtzehnjährigen: Wieder bist du kaum gewachsen, dieses Jahr! Schau dir dagegen deine kleine Schwester an! – Sind da nicht einige Kinderfragen fällig?

Immer mehr Anführer aus Politik und Wirtschaft erheben Stimme und Zeigefinger, oder die Peitsche, um Aufbruchsstimmung zu verbreiten. Ein Ruck muß durchs Land gehen, rief uns der Präsident zu. Die Welt ist im Aufbruch und wird nicht auf Deutschland warten. – Wohin es gehen soll, bleibt vage. Doch das Volk soll sich aus seiner Depression befreien und die lähmende Wachstumsschwäche überwinden. Alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand. Eine Vision brauchen wir. Eine Gesellschaft der Selbständigkeit, in der Freiheit der zentrale Wert ist. Wenn wir alle Fesseln abstreifen, müssen wir es schaffen, wieder eine Spitzenposition einzunehmen und eine Welle neuen Wachstums auszulösen, das neue Arbeitsplätze schafft. ... Was hat er nicht für Lob bekommen für diese Worte! Ja – warum erfaßt nicht auch uns jene Dynamik, die Roman Herzog in Asien so faszinierte? Vorwärts endlich – ins vorige Jahrhundert?

Wie kindisch, sich beim Erwachsenwerden der Wachstumsschwäche zu schämen! Mag auch die Schulbank hier und da als Streckbank gestaltet sein, so weiß doch schon der Jugendliche, daß nun andere Aufgaben bevorstehen. Offensichtlich ist in den führenden Industrienationen jetzt etwas anderes fällig als sogenanntes Wirtschaftswachstum. Dies zeigen nicht nur die ökologischen und gesellschaftlichen Zerstörungsprozesse, für die viele kein Gespür haben; nein, auch auf der Oberfläche, im Wirtschaftsleben, meldet sich ein garstiges Jucken – und alle verordneten Salben scheinen es nur schlimmer zu machen.

Was muß heute eigentlich wachsen, damit es uns besser geht? Die Weisen sagen noch immer: Das reale Sozialprodukt, die sogenannte Wertschöpfung. Was sind das für Werte, die wir da schaffen? Offenbar dient die wirtschaftliche Aktivität in entwickelten Ländern überwiegend nicht mehr dem Wohl der Bürger. Das predigen ja auch die Experten schon lange – ohne freilich zu merken, was sie da eigentlich sagen: Wenn das reale Bruttosozialprodukt nicht wächst, geht es uns schlechter! Mit anderen Worten: Tun wir heuer das gleiche wie voriges Jahr, so geht's bergab. Warum nur, wenn wir dauernd Werte schaffen? Falls uns nicht ständig von außen Gewalt angetan wird, muß das wohl bedeuten: Unser eigenes Tun richtet insgesamt mehr Schaden als Nutzen an. Tun wir mehr vom Gleichen, um so das Sozialprodukt wachsen zu lassen, wird's also noch schneller bergab gehen – nicht wahr?

Das ist kein scheinbares Paradox, sondern ein echter innerer Widerspruch unserer Leitideen. Im Bruttosozialprodukt wird einfach alles, was Geld gekostet hat, aufaddiert. Es gibt kein negatives Tun. Noch die schlimmste Zerstörung trägt positiv bei. Schon eindimensionales Denken ist also den Wirtschaftsweisen zu hoch. Nicht einmal Plus und Minus wollen sie unterscheiden. Eine halbe Dimension muß genügen. Gerade mal die Null kommt noch vor: Mit ihr wird bewertet, was nicht verkauft und bezahlt wird – zum Beispiel was Eltern für Kinder tun.

Der Expertenmaßstab versagt offensichtlich auf den Prüfständen der Logik wie der Praxis. Nicht nach dem Geldumsatz wäre doch wirtschaftlicher Erfolg zu beurteilen, sondern nach den Folgen für Menschen und Umwelt. Wollen wir auch als Erwachsene weiter wachsen, so müssen wir es wohl in anderen Dimensionen versuchen. Der eigentliche "Reformstau" liegt offenbar in den Grundideen über die sogenannte Wirtschaft. Die Mehrheit darf sich nicht mehr von hochbezahlten Weisen weismachen lassen, das Wirtschaftsleben folge unabänderlichen Naturgesetzen. Eine einsichtige Mehrheit kann und muß die Rahmenbedingungen der Wirtschaft ändern.






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Jahrhundertelang haben wir darauf hingearbeitet, weniger arbeiten zu müssen. Wie dumm – jetzt ist es geschafft! Bald können wenige Prozent aller Menschen den Güterbedarf aller anderen decken. Was sollen dann die anderen tun? Könnten wir das bißchen Arbeit gerecht verteilen und uns mit der gewonnenen Muße höheren Fähigkeiten zuwenden? Blauäugig! – sagen die Experten. Härter müssen wir arbeiten, denn wir stehen im globalen Wettbewerb! Was das ist? Eine Art Weltkrieg, möchte man meinen, wenn man die Heerführer von schlagkräftigem Projektmanagement und Durchbruchsstrategien reden hört. Aber nein, heißt es, das ist ein friedlicher Wettbewerb – wenn auch kein freiwilliger. Wer beim wachsenden Tempo nicht schritthält, ist verloren.

Was ist eigentlich das Ziel des Rennens? Wohin will alle Welt, die da Runde um Runde im globalen Stadion läuft? Niemand kann ein Ziel nennen. Es gibt gar keines! Nur schneller muß das Rennen werden! Wer im Wettbewerb nicht vorn ist, geht unter, heißt es. Und doch im gleichen Atemzug: Wir brauchen mehr Wettbewerb! Wir wollen also nicht nur, daß andere untergehen – nein, wir wollen uns dafür auch noch mehr anstrengen müssen.

Könnten wir nicht gemeinsam dafür sorgen, daß es alle leichter haben, und daß trotzdem niemand untergehen muß? – Ja, eben dafür brauchen wir noch mehr globale Zusammenarbeit, heißt es. Doch wie merkwürdig: Mehr internationale Kooperation scheint noch mehr Konkurrenz zu bedeuten. Je stärker wir aneinander gebunden sind, um so schneller scheinen wir allesamt laufen zu müssen – in immer exakterem Gleichschritt, weil ein einziger Stolperer alle stürzen ließe. Ist es da überhaupt noch denkbar, sich aus den Bindungen zu lösen? Etwa die Verfolger höflich vorbeizuwinken, sich am Rande der Aschenbahn auf den Rasen zu setzen und eine Ruhepause einzulegen? Vielleicht auch denen zu helfen, die so weit zurückliegen, daß bei Ihnen sogar das Wachstum des Sozialprodukts noch positiv zu bewerten ist? Um was eigentlich konkurrieren wir mit jenen? Warum trifft es uns so hart, wenn's anderswo auf der Welt aufwärts geht?

Nun ja – die einst von uns Kolonisierten wollen uns nicht mehr dienen. Wir können sie nicht mehr so recht ausbeuten, müssen also selbst wieder mehr arbeiten. Wie gut also, daß wir's geschafft haben, mit immer weniger Arbeit alles zu produzieren, was wir brauchen – nicht wahr? ... Ach nein, wie dumm! ... Wir brauchen doch die Arbeitsplätze! Ganz wirr wird mit im Kopf... Wofür brauchen wir sie eigentlich?

Ist es in einem so hoch entwickelten Land noch sinnvoll, die Grundversorgung vom Arbeitseinkommen abhängig zu machen? Immer lauter wird diese Frage, in allen Parteien. Sogar Sir Ralph Dahrendorf stellte sie – einst führender deutscher FDP-Mann, dann Direktor der London School of Economics (– etwa eine sozialistische Kaderschule? –) und heute Mitglied des britischen Oberhauses. Er denkt, wie nun schon viele, über ein allgemeines Bürgergeld für Existenzminimum, Erziehung, Alter und Krankheit nach. An Bürgern, die gern Arbeit übernähmen, um sich über die Grundbedürfnisse hinaus etwas leisten zu können, werde es dann gewiß nicht fehlen.

Welche Weltfremdheit! Arbeit wird nicht übernommen, sondern gegeben! Arbeitgeber sind nötig. Arbeitsplätze werden zur Kapitalbedienung geschaffen – doch nicht, damit wir essen und wohnen und Kinder wachsen lassen können! Durch Arbeit darf das Leben letztlich nicht leichter werden – wo bliebe sonst die Beschleunigung des Rennens, die Grundlage des Wachstums, in das schließlich sämtliches Vermögen investiert ist? Nein – bedrohlicher muß alles werden. Erst der Kampf ums nackte Überleben mobilisiert letzte Reserven!

Unsere eigenen Bedürfnisse reichen aber nicht mehr aus, um unser Kapital zufriedenzustellen. Nicht nur, daß wir zu wenig Not leiden, um das letzte zu geben – diesem Mangel wäre ja durch Sozialabbau abzuhelfen – nein, wir sind doch nun einmal eine Exportnation! Das weiß doch jeder. Wir dürfen uns nicht so sehr um eigene Bedürfnisse kümmern, sondern können nur leben, wenn andere Nationen vieles von uns kaufen, das sie noch nicht selbst herstellen können. Deshalb gilt bekanntlich: Die Zukunft der Arbeit heißt Innovation! Wir müssen neue Bedürfnisse schaffen – vor allem auch bei anderen, damit uns nicht die Arbeit ausgeht, die wir brauchen, um das Kapital zu bedienen, das uns dann als Lohn für diese Dienste Brot gibt – und Spiele ...

Wie dumm, daß andere Völker, diese Raubtiere, vor allem jene in den Tigerstaaten, immer gleich lernen, wie's geht. Sogar Erfindungen machen sie selbst! Und die unseren übernehmen sie so schnell, daß sie schon morgen auch das Neueste selbst erzeugen – und so billig, daß sogar wir lieber bei ihnen kaufen ... Es fehlen also Innovationen, die wirklich dauerhaft unsere Überlegenheit erweisen, uns den Platz in der Spitzengruppe sichern, den der Bundespräsident so sehr ersehnt. Sollte der Laufrhythmus nicht mehr zu beschleunigen sein, so müssen eben die Schritte größer werden! Da genügen nicht Tropfen auf den heißen Stein, wie die regelmäßige Vergrößerung der Speicherkapazität von Chips oder die Ersetzung der Schallplatte durch die CD, die ein paar Produzenten und Händlern für ein paar Jahre Auskommen gab. Wann endlich kommt ein echter Durchbruch, der uns alle dauerhaft in Arbeit einspannt und uns so vor sozialem Abstieg und gar Hunger retten kann?






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Ländern wie Indonesien sollen wir nun also nacheifern. Dort ist die Wirtschaft viel weniger durch romantische Gefühlsduselei oder Reste des sozialistischen Wahns behindert. Wer im globalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte bestehen will, darf sich nicht so sehr um Kranke und Behinderte, Kinder und Alte oder gar um Umwelt und Menschenrechte scheren. Solche Besitzstände, die nur unter der Bedrohung durch's totalitäre Unrechtssystem des Sozialismus wider alle wirtschaftliche Vernunft entstehen konnten, können auf dem Prüfstand des Neoliberalismus nicht bestehen. Wir haben da über unsere Verhältnisse gelebt.

Die Verhältnisse? Sind das nicht die gesellschaftlichen Randbedingungen, die definieren, worum es geht? Warum geht es nicht um frohe, geistig wachsende Menschen in lebensfähiger Umwelt, sondern um share-holder-value, Kapitalertrag und Wachstumsraten? Warum setzen wir uns nicht vernünftigere Ziele? Woher das ziellose, panische Rennen? Ist es ein Davonlaufen? Aber wovor denn? Ist eine Bestie hinter uns her, die die Nachzügler verschlingt?

Oh nein – noch schlimmer: Wir leben von diesem Spiel. Das Geld zum Leben kommt von den Sponsoren des Rennens, und diese verdienen es vor allem durch Wetten! Dort oben auf den Rängen des Stadions sitzen sie, feuern uns an, und wetten nicht nur auf unsere Rundenzeiten, sondern auch auf die Höhe der Wettquoten und Einsätze, ja zunehmend sogar auf noch höhere "Derivate". Schon wird auf den Finanzmärkten fast hundertmal mehr Umsatz und entsprechend mehr Gewinn gemacht, als im Welthandel mit realen Gütern.

Kann dies den Läufern da unten nicht egal sein? Ist es nicht ein Nullsummenspiel, bei dem die Gewinne und Verluste der Wettenden sich ausgleichen? Oh nein! Die Spielregeln sorgen ja für's rapide Wachstum der gesamten Vermögen – und deren Eigentümer dürfen sich damit immer mehr von den Lebensgrundlagen aller aneignen, immer neue Abhängigkeiten schaffen!

Früher saß man auf den Rängen in nationalen Logen beisammen, und jeder förderte sein eigenes Team in der Runde der Läufer. Die Globalisierung hat das drastisch geändert: Unsere Sponsoren sind mittlerweile gar nicht mehr so sehr auf die Beschleunigungswerte des "eigenen Teams" angewiesen, wie es ihre Anfeuerungsrufe glauben machen sollen. Kommt ein anderes Team nach vorne, so ist das für die Vermehrung der "Wettgelder" ebenso recht. Immer schneller schwappen die Billionen durch jene höchsten Ränge des Stadions, die globalen Finanzmärkte. Täglich sind es bereits hunderte von Mark pro Erdbewohner! Wenn dabei aber genug für unser täglich Brot abfallen soll, müssen wir dringend weitere Sponsoren finden, das heißt für fremde Investoren reizvoller werden! Immer mehr Läufer sind es ja geworden, doch immer weniger Sponsoren auf den Rängen – schon weil diese immer dicker werden. Wie sollen wir Erwachsenen in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Belohnung der "Geldgeber" mithalten, wenn doch die Jüngsten im Rennen geradezu unmenschliche Kunststückchen bieten?

Warum nur lassen wir zu, daß die paar Leute auf den Rängen sich alle unsere Lebensgrundlagen aneignen – noch dazu mit leistungslosen Einkommen aus Wettgewinnen? Wollen wir nicht das Rennen absagen und uns daran machen, das Stadion in einen Garten zu verwandeln? Ach so – das geht nicht – wegen der Besitzstände. Es gehört längst alles den Sponsoren.






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Eben hatten wir Deutschen in einer noch atavistischeren Form der Konkurrenz die gemeinsten Verbrechen der letzten Jahrtausende organisiert und wieder einmal alles kaputt geschlagen. Als Nebenwirkung der 50 Jahre des Wiederaufbaus entstanden phantastische Vermögen – größer als je in unserer Geschichte, wenn auch nur ein Teil der vielen tausend Milliarden den Statistikern oder gar Finanzämtern bekannt ist. Nun aber heißt es: Wir müssen sparen! Es ist kein Geld da! – Ja, wo ist es denn eigentlich?

An der Macht ist es – und so dient es nicht seinem eigentlichen Zweck, den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu erleichtern. Das lohnt sich kaum. Was sich lohnt, ist das Haben – sofern die geistige Leistung hinzukommt, die Mehrheit im Aberglauben zu erhalten, es sei quasi naturgesetzlich, daß man Arbeit und Lebenssinn nur finden kann, wenn man mithilft, jenes Eigentum weiter anwachsen lassen.

Privatisierung nennt man den letzten Akt der Unterwerfung unter die Macht der Vermögen. Das letzte Stück Land in kommunalem Eigentum und die letzten noch aus gemeinnützigem Antrieb geschaffenen Werte müssen den Geldbesitzern ausgeliefert werden, um endlich effizienter dem Vermögenswachstum zu dienen. Und Deregulierung nennt man es, wenn alle nicht durch Geldbeträge ausdrückbaren Wertvorstellungen aus der Gesellschaftsverfassung verdrängt werden – all jene seltsamen Bräuche und Einrichtungen, die man einst die Kultur eines Landes nannte und die doch kaum geldwerten Vorteil brachten. Das kann ganz zwanglos abgeschafft werden. Der freie Bürger, der dank 99 Kanälen alles über die Welt erfahren und geistig verarbeitet hat, bestimmt in freien Wahlen eine Regierung, die dann Gesetze oder Ministerratsbeschlüsse durchpeitscht, um letzte Behinderungen für die Freiheit des Geldes abzubauen.

Bis vor kurzem geschah das noch etwas halbherzig und zaghaft. Wohl aus purer Nostalgie glaubte man lange, gewisse demokratische Grundregeln wahren zu müssen. Damit ist es endlich vorbei. Man kann nicht zwei Herren dienen – dem Volk und dem Geld. So lassen nun demokratisch gewählte Parlamente ihre Regierungen Verträge schließen, nach denen die eigene Zuständigkeit und die demokratische Kontrolle zu beseitigen sind. Es geht ja nicht an, daß etwa irgendwo die Mehrheit die Möglichkeit behält, auf dem Wege demokratischer Gesetzgebung die Macht der Vermögen zu beschränken. Dem Versperren solcher Irrwege dienen derzeit die heimlichen "MAI"-Verhandlungen in Paris. – Noch freilich bleibt auch im nationalen Rahmen manches zu tun. Könnte nicht zum Beispiel mehr Marktwirtschaft im Gesundheitswesen durchaus zu noch effektiverer Kapitalbedienung durch Patienten, Versicherte, Ärzte und Pflegepersonal verhelfen? Oder denken wir ans Bildungswesen: Was hier noch alles an "Sparmaßnahmen" möglich wäre!

Welch schillerndes Wort: Sparen! Das macht reicher oder ärmer – je nachdem, ob man reich oder arm ist. Den Gürtel enger zu schnallen, bedeutet für die Vermögenden, daß sie dicker werden. Etwas von den "sauer verdienten Ersparnissen" zur Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben herzuleihen, ist offensichtlich eine Leistung, die sich lohnt. Bei denen dagegen, die von der Hand in den Mund leben, bedeutet Sparen, sich noch mehr abzuknapsen – vor allem, wenn noch Kindermünder hinzukommen.

Kinder schafft man sich heute freiwillig an, meinte Professor Peter Bareis, Mitgestalter der Bonner Steuerreformpläne. Konsequent fände er es eigentlich, für eine solche Privatsache alle Beihilfen abzuschaffen. Ein rechter Neoliberaler läßt mit dem Sozialismus auch gleich die Idee untergehen, es gebe überhaupt so etwas wie Gesellschaft. Schon das Wort Solidarität riecht ihm nach Ausbeutung der Emsigen durch die Faulen. Weiß nicht jeder, daß er alt und krank werden kann? Soll er also selber vorsorgen! Der Staat soll sich da heraushalten. Er ist nur noch da, um den Glauben an die Dreieinigkeit von Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung institutionell zu sichern.

Man kann sich denken, wer diese Ideologie vertritt: Jene, die das Geld haben, das angeblich nicht da ist. Deregulierung bedeutet ja nicht Regellosigkeit. Mit Geld läßt sich alles regeln – und zwar so, daß die, die wenig Geld haben, mithelfen müssen, es dort zu vermehren, wo es schon ist. Lauter erfolgreiche Sparmaßnahmen, gewissermaßen: So fallen täglich – täglich! – an die zwei Milliarden Mark Erträge auf deutsche Vermögen an. Selbst Bettler helfen da mit: Seit für Almosen kein Lohn im Jenseits mehr erwartet wird, gibt die Unsichtbare Hand für sie nichts her, doch darf nun die Öffentliche Hand bei Reichen Geld leihen, um Armen Sozialhilfe oder Wohngeld zu gewähren. So tragen, über den öffentlichen Schuldendienst, sogar die Almosen auf modernste Weise zur Kapitalbedienung bei.

Als der Liberalismus entstand, lebte die Wirtschaft von Sklavenhaltung. Auch der Neoliberalismus kommt nicht ohne sie aus. Nur hat die Sklaverei eine höhere Organisationsform erreicht: Man muß nun nicht mehr Menschen besitzen – igitt, das wäre doch eklig – nein, es genügt die Aneignung ihrer Lebensgrundlagen.

An der Wurzel liberaler Ethik lagen die Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit, Grundlagen der Moderne. Zwar wurde nie geklärt, wer eigentlich frei sein soll, aber der Streit hat sich erledigt. Das freie Spiel der Kräfte ergab: Freiheit für die Macht der Vermögen, sich weltweit alle Freiräume und Lebensgrundlagen anzueignen! – Was dann wohl Gerechtigkeit bedeuten mag? Chancengleichheit natürlich! Jeder soll die Chance haben, anderen ihre Chancen wegzunehmen! Wenn er die Macht dazu hat – also reich genug ist...






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Gibt es denn etwa eine Chance gegen die Macht der Vermögen? Nehmen wir den Präsidenten beim Wort: Auch dieser Besitzstand gehört auf den Prüfstand! Die Freiheit des Geldes und des Eigentums ist es, die heute zunehmend alle wesentlicheren menschlichen Freiheiten fesselt! Natürlichen Strukturwandel nennt man das verschämt. Aber nicht ein Naturgesetz legt uns diese Fesseln an. Sie liegen letztlich allein in den Köpfen, in den Knoten lebensunfähig gewordener Leitideen, in falschen Begriffen. Sobald die Mehrheit das begreift, wird sie die Fessel abstreifen.

Gegen die Macht aufstehen können nur jene, die nicht alle Kraft zum Ringen um die bloße Existenz brauchen und die doch noch etwas anderes im Kopf und im Herzen haben als die Gier, selbst zu den Mächtigen zu gehören. Noch sind das bei uns viele, und immer mehr von ihnen beginnen sich der Schlagworte der Anführer zu schämen, weil deren innere Widersprüche und Machtansprüche so schamlos offensichtlich werden. Ist es vorstellbar, daß genügend viele ihre Fähigkeiten nicht zum Gebrauch der Ellenbogen einsetzen wollen, sondern zum Mittragen des Ganzen? Dann ergäbe sich schnell eine neue "Meinungsführerschaft", und ein Wettlauf nach lebensfähigeren gesellschaftlichen Leitbildern könnte einsetzen.

Hier ist die Front, an der wir eine Spitzenposition einnehmen sollten! Dazu verpflichten uns Europäer das Verursacherprinzip und unsere freiheitliche Verfassung. Nur in den reichen Ländern ist der Wandel ohne Gewalt möglich, allein durch die Ausbreitung gesunden Menschenverstands, den auch die Medien der Mächtigen nicht ganz zum Schweigen bringen können. Weil es immer weniger sind, die fast alles besitzen, wird das angeblich so unpopuläre Rütteln an Besitzständen populär werden und hoffentlich auf dem ganz normalen Wege demokratischer Gesetzgebung zu fundamentalem Wandel führen.






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Es ist wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleider. Die Ideen des Liberalismus waren einst der geschichtlichen Situation angemessen und durchaus kleidsam. Der Neoliberalismus aber ist der letzte Versuch, die absurd gewordene, nackte Macht des Geldes mit Ideologie zu verbrämen. Seine Verkünder werden sich verschämt verkriechen, wenn Kinderfragen laut werden und in Parteiprogramme und Wahlergebnisse eingehen. Und die Professoren werden sagen, sie hätten schon immer die Nacktheit erkannt, und nur nichts sagen wollen, weil es sich nicht ziemte.

Schon höre ich die Kinderfragen. Mitten in eine Ministerrede über den notwendigen Subventionsabbau und die Verhinderung des Sozialhilfemißbrauchs platzen sie herein: Müßtet ihr nicht vor allem aufhören, das Kapital zu subventionieren? Macht nicht diese Sozialhilfe für die wenigen Reichen zehnmal mehr aus als die Sozialhilfe für die vielen Armen? – Da sind wohl die Milliarden gemeint, die den Besitzenden täglich als "Vermögenserträge" zugeschoben werden.

Nun ja, wie soll ein Kind das Eigentumsrecht und die Berechtigung leistungsloser Einkommen aus Zins und Zinseszins verstehen? Auch der Lehrer, der es an der Hand hat, versteht das alles nicht und muß daher zu moralischem Tadel greifen. Ich höre ihn etwas von Leistung und Sozialneid murmeln. Aber das Kind will's einfach nicht begreifen. Da ist es schon wieder, das Stimmchen: Warum sind eigentlich die Reichen so neidisch auf die Armen? Warum gönnen sie ihnen nicht einmal mehr Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe, wenn sie doch selber ohne jede Leistung so viel mehr geschenkt kriegen?

Gar nicht so leicht zu sagen, ob das naiv klingt, oder frech... doch schon zeigen die Umstehenden Wirkung. Allgemeines Gemurmel setzt ein, schwillt an, und nach einem kurzen, chaotischen Selbstorganisationsprozeß erhebt sich ein Sprechchor gegen den Redner auf dem Podium: Streift die Fesseln ab! Weg mit der Sklaverei und der Macht des Eigentums! Freiheit für die Menschen! Und dann: Wir fordern gerechte Verteilung der leistungslosen Einkommen!

Herr Präsident, was haben Sie angerichtet mit Ihrer Forderung nach einer Vision!






5. Der siebte Tag

Nun muß es schnell gehen. Die Zeit läuft ab. Aber worauf es ankommt, dürfte jetzt klar sein: Die wesentliche Front unseres Zappelns muß künftig in den seelisch-geistigen Fähigkeiten liegen – und hierzu müssen wir uns endlich befreien. Das bedeutet die Emanzipation von militärischer und wirtschaftlicher Macht, wie auch vom Aberglauben, die Wissenschaft könne und müsse an den Fronten früherer Schöpfungstage in Eile die Welt verbessern. Weil ich selbst Naturwissenschaftler bin, kann ich gerade am letzten Punkt nicht vorbeigehen: Die Biosphäre, unser Leib und unser Hirn sind "sehr gut"; daß die Menschennatur diese Wurzeln keineswegs zwangsläufig vernichtet, ist aus der Kulturgeschichte abzulesen. Nur muß nun die nächste große Kulturleistung gelingen, nämlich dem "Großen und Schnellen" verfassungsmäßige Schranken zu setzen. Innovation ist nur dort dringend, wo sie dazu beiträgt, die schlimmsten Sünden der letzten Jahrzehnte zu heilen. Wo weiteres "Durcheinanderwerfen" droht, muß die eilige, globale Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse behindert werden.

Dies ist für viele Wissenschaftler zunächst völlig unvorstellbar, weil ja gerade für sie selbst das Voranstürmen mittels "Schlüsseltechnologien und Durchbrüchen" zur Lebensgrundlage und zur Quelle hohen gesellschaftlichen Ansehens geworden ist. So findet in der Wissenschaft eine Auslese gegen die Vernunft statt: Wer Bedenken hat, scheidet aus – und das Rennen geht beschleunigt weiter. Die Einsicht, daß wir – angesichts unserer Fähigkeit, völlig neue Bereiche des Raums der Möglichkeiten zu erobern – nicht nur fürs Vorhersehbare, sondern sogar fürs Ungeahnte verantwortlich sind, dämmert auch manchen Wissenschaftlern. Aber das hilft nichts, weil sofort skrupellosere an ihre Stelle treten werden, solange nicht gesellschaftliche Rahmenbedingungen dafür sorgen, daß kindischer Größenwahn nicht mit Ruhm und Geld belohnt wird.

Ist das zu abstrakt? Schauen wir Beispiele an: Selbstverständlich gibt es im Raum der Möglichkeiten praktisch unendlich viele chemische Verbindungen, die bisher auf der Erde, oder gar im ganzen Universum, nicht verwirklicht wurden – manche vielleicht in keinem einzigen Molekül. Und "es gibt" unermeßlich viele Genkombinationen, die vom Tasten des irdischen Lebens noch nie berührt wurden. Viele dieser Möglichkeiten scheinen dem Menschen Bequemlichkeit zu versprechen, also dem Produzenten Profit. Dann sind sie unter den gegenwärtigen Bedingungen attraktiv. Denken wir etwa an das Programm der "Chemieriesen" Monsanto oder Farbwerke Hoechst, die Äcker der Welt mit ihren Totalherbiziden "round-up" oder "Bravo" zu überschütten, so daß nur noch genetisch manipulierte, mit entsprechenden Resistenzgenen versehene Kulturpflanzen gedeihen können. Welch phantastische Einkommensquelle und globale Macht für die share-holder und andere Geldgeber!

Weil von solchem Segen etwas auf die beteiligten Wissenschaftler abfiele, reden sich einige von diesen ein, die Sache werde wahrscheinlich gutgehen, wenn man nur guten Willens und mit Vorsicht an sie herangehe. Und natürlich kommen wahrscheinlich gerade jene an die Spitze entsprechender Forschungsinstitute und in Kommissionen zur "Folgenabschätzung" und zur Definition des "Standes von Wissenschaft und Technik". Letzterer ist ja entscheidend für's sogenannte Gewissen. Wenn nämlich nach Jahren oder Jahrzehnten die Folgen des "Durcheinanderwerfens" sichtbar werden, dann wird man sagen wollen: "Es war niemand schuld, denn nach dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik war eine solche Entwicklung nicht vorhersehbar."

Diese Ausrede ist schon bei der Meditation über 24 Punkte und ihre verschiedenen möglichen Strichverbindungen als Lüge oder als Zeichen von Schwachsinn zu erkennen. Nicht die geringste Hoffnung ist gerechtfertigt, daß das Fortschreiten auf dem mit chemischer und biologischer Großtechnik eingeschlagenen Wege gutgehen könnte. Mit ein wenig Nachdenken über das Wesen komplexer "Wertschöpfung" ist das so leicht einzusehen, daß diese Art des Fortschritts abgebrochen werden wird, sobald die Mehrheit ihre wirklichen Lebensgrundlagen von den heutigen Eigentümern oder Besetzern zurückerobert hat. Schon heute wären ja die dümmsten Fehlentwicklungen mit einem simplen Gesetz über langjährige Versicherungspflicht für etwaige Spätfolgen zu stoppen.

An dieser Stelle der Diskussion bringen interessierte Industrien und Wissenschaftler natürlich den "Mythos vom Hunger" ins Spiel: Wenn wir nicht risikofreudiger sind, hat die Menschheit keine Überlebenschance! Aber das ist längst widerlegt. Nicht nur die berüchtigten "grünen Spinner", sondern auch Forschergruppen der amerikanischen Akademie der Wissenschaften haben in detaillierten Studien gezeigt: Fast überall auf der Erde könnten die Menschen sich auch heute und morgen mit ziemlich altmodischer Landwirtschaft von Erträgen des eigenen Landes ernähren – wobei freilich auch vielfältige, lokal angepaßte Verbesserungen möglich sind, die keine Gefahren heraufbeschwören würden.

Die Siegesmeldungen von einer anderen Front, an der ständig Durchbrüche gefeiert werden, sind nicht weniger voreilig: Auch die Vorstellung, der Mensch gewinne wesentliches, wenn jeder mit jedem jederzeit "kommunizieren" oder über Datenautobahnen gewaltige Datenmengen beziehen oder verteilen könnte, ist leicht als Wahn erkennbar. Kommunikation setzt Gemeinsamkeit voraus, doch diese wachst ähnlich langsam wie die Persönlichkeit selbst. Beim Versuch eiliger Erweiterung kann nur Einfalt entstehen. Die Überschwemmung mit sogenannter Information bedeutet vor allem "Innenweltverschmutzung". Datenübermittlung und Information sind nämlich ganz verschiedene Dinge – wie schon Joseph Weizenbaum oft betont hat. Information entsteht erst durch "Verarbeitung" – also das Abtasten und Bewerten der "Daten" im komplexen Zusammenhang. Der Versuch, diesen Prozeß im Menschen über das ihm evolutionär mitgegebene Maß hinaus wesentlich zu erweitern und zu beschleunigen, führt zwangsläufig zu seiner Degradierung und Simplifizierung – wie schon in der modernen Sprachentwicklung deutlich wird, die eng mit dem gesamten "Innenleben" gekoppelt ist.

Die Vision, nun werde eben der Computer weitgehend an die Stelle des Menschen treten, entspringt einem kindischen Mißverständnis darüber, was Komplexität bedeutet und wie sie entstehen und reproduziert werden kann. Wo die Simplifizierung und "Vermüllung" des Innenlebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen noch nicht zu weit fortgeschritten ist, da ist deshalb auch die Erfahrung durchaus lebendig, daß wir die Krone der Schöpfung sind – gerade wegen unserer nicht "wissenschaftlich faßbaren" Fähigkeiten, wie jener zu "Glaube, Hoffnung und Liebe". Der meiste Zivilisationsplunder ist dagegen läppisch – komplizierter Müll anstelle lebensfähiger Komplexität.






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"Aber die Menschen wollen das nun einmal. Wir leben schließlich in einer Demokratie", heißt es dann. Hierzulande sollte wohl dieses Argument nicht mehr genügen, um die Suche nach lebensfähigeren Ideen zu verteufeln. Natürlich kommen große Instabilitäten genau dadurch zustande, daß sich ihnen die Mehrheit anschließt. Am Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise ist es also eine triviale Selbstverständlichkeit, daß "die Mehrheit unrecht hat". Aber das ist nicht ein Fehler der Mehrheit, sondern der Anführer, die auf dem attraktiven "Weg zur Hölle" an die Spitze drängen. So kulturbedingt aller menschliche Geist ist, das Fortschreiten der Kultur geht von Individuen aus. Nur das geistige Zappeln einzelner am Rande des Heerzuges bietet eine Chance, bessere Ideen zu finden – die dann freilich auch für die Mehrheit attraktiv werden müssen.

Fast alle Menschen haben das Zeug, fröhlich zu sein, zu lieben und sich auch über das Glück ihrer Nächsten und aller Mitgeschöpfe zu freuen. Dies ist es, was ihnen am "siebten Tag" zusteht und was die Weisen meinten, wenn sie sagten, wir sollten "Gott loben". Der Drang zu Macht und Ausbeutung nimmt erst überhand, wenn die Freiräume für diese eigentlich menschlichsten Fähigkeiten verloren gehen – das ist unter den Bedingungen von Not und Unterdrückung. Dann setzt ein "Teufelskreis" ein – die abwärts führende Spirale der Konkurrenz um Lebensgrundlagen. Wer nicht in der Spitzengruppe ist, geht unter ... – einst im bewaffneten, jetzt vor allem im wirtschaftlichen Eroberungskrieg. Wir können nur überleben, wenn wir mit gezielten Exportoffensiven neue Märkte erobern und gegen die wachsende Konkurrenz verteidigen. – Glauben Sie das?

Wie jahrhundertelang der Krieg um Territorien und Tributpflichtigkeit, sind auch Überbetonung und Mißbrauch von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik Teil des Teufelskreises: Weil "harmlosere" Lebensmöglichkeiten besetzt oder versperrt werden, geraten immer mehr Menschen auf die Straße dieses Fortschritts und sind dort noch leichter auszubeuten. Ein Ausweg aus der Spirale war vor dem Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise nicht zugänglich. Nun aber zeichnet sich ab, daß bei fortschreitender Aufklärung die Völker der Welt aus Einsicht ins Wesen der Krise gemeinsam eine Verfassung finden könnten, in der Krieg und Ausbeutung unerreichbar werden.

Kann sich der Mensch endlich von den Zwängen und Abhängigkeiten befreien, die ihn von dem abhalten, was er am siebten Tag tun kann, ohne die bisherige Schöpfung – einschließlich seiner selbst – zu gefährden? Die Frage spitzt sich heute auf einen "Knackpunkt" zu: Läßt sich auch die modernere Form der Sklaverei abschaffen – nämlich das Eigentum an den Lebensgrundlagen anderer? Kurz: Läßt sich die Marktwirtschaft vom Kapitalismus befreien?






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Naheliegend ist das radikale Ausweichen mancher religiöser oder esoterischer Lehren: Weil unser eigentliches Wesen in unserer Spiritualität liegt, komme es auf so "weltliche" Dinge wie Politik gar nicht an. Warum also über die Gesellschaft nachdenken? Aber auch die "Materialisten" landen meist bei der Aussage, man müsse "dem Kaiser geben, was des Kaisers ist" – weil sie dazu neigen, diesen Zwang unerbittlichen Naturgesetzen zuzuschreiben. Resignation vor dem Wirrwarr politischer Ideen treibt auch Skeptiker in diese Richtung des laisser-faire, und sogar das Ideal der Jugend, die extreme Individualisierung (– freilich selbst ein intellektuelles Phänomen –) führt dorthin: Das beliebte: Was kann schon der einzelne tun? ist sehr förderlich fürs "Teile und herrsche" der Mächtigen. Es dient der Unterdrückung besserer Ideen so gut wie das "Gott hat gesagt". Jetzt allerdings, angesichts immer absurderer Erscheinungen auf den sogenannten freien Märkten, beginnen die Stimmung und die veröffentlichte Meinung in die Gegenrichtung umzuschlagen. Sogar ein Wort dafür hat sich zur rechten Zeit eingestellt: Kommunitarismus. Man wagt wieder zu denken: Es gibt so etwas wie gemeinsame Ziele und Aufgaben.

Lange hatte kaum jemand zu hoffen gewagt, daß eine Diskussion über fundamentale Mängel unserer Grundordnung bald wieder in Gang kommen könnte. Sogar das Ende der Geschichte wurde verkündet. Selbst Menschen, die den Untergang bei Fortsetzung der gegenwärtigen Trends klar vor sich sahen, glaubten nicht an die Möglichkeit, daß etwa die ökologischen Untergangssymptome die Menschheit noch rechtzeitig zur Umkehr bewegen und auf verläßlichere Wege bringen könnten. Der Soziologe Ulrich Beck meinte einmal, eine Revolution sei nicht zu erwarten, da es kein "Ökologisches Proletariat" gebe. Oh doch, das gibt es! Trotz Fernsehen und Bildungsbürokratie ist der menschliche Geist nicht ausgerottet, und er leidet! Weltweit begannen Denkende und Fühlende schon lange, sich als eine Art von Proletariat zu sehen, das sich gegen die Entrechtung und Ausbeutung durch globale Wirtschaftsmacht, pseudowissenschaftlichen Größenwahn und mediale Verblödung würde vereinigen müssen. Nun wird dieser Prozeß durch die wirtschaftlichen Absurditäten beschleunigt, weil sogar in den "führenden Ländern" bereits die Mehrheit von diesen betroffen ist.

Wenn die Mehrheit zu kippen beginnt, arbeiten natürlich die "Investoren" daran, die politischen Entscheidungen von gewählten Parlamenten auf erlesene Expertenkommissionen zu verlagern. Aber die Idee der Demokratie ist in den führenden Ländern noch verankert, und so besteht die Chance, daß die notwendige Revolution gewaltlos, allein durch Ausbreitung besserer Ideen und entsprechenden Bewußtseinswandel geschieht. Sichtbar werden wird dieser Prozeß, wie jeder phasenübergangsartige Selbstorganisationsprozeß, zunächst in Keimzellen. Noch ist auch Deutschland frei, zu einem solchen Ausgangspunkt globalen Wandels zu werden. Die geschichtlichen Voraussetzungen sind hier besser als an vielen anderen Stellen. Vielleicht aber wird das Umkippen der öffentlichen Meinung sogar in ganz Europa fast gleichzeitig einsetzen.






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Warum sollte die Abschaffung des militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Imperialismus, sozusagen der Friede des siebten Tages, jetzt erreichbar werden, wenn doch seit Jahrtausenden jeder Versuch, ihn irgendwo zu sichern, mit Gewalt hinweggefegt wurde? Fromme oder aufgeklärte Prediger konnten trotz starker gesellschaftlicher Bewegungen wenig bewirken, weil der selektive Vorteil des Großen und Schnellen nicht durch lokale Organisation zu beseitigen war. Immanuel Kants Schau eines dauerhaften Friedens etwa war gesellschaftlich bisher so wenig verwirklichbar wie Jesu Rat, dem Angreifer die andere Wange hinzuhalten. Wer nicht kämpfte, ging unter. Erst die schnelle globale Wechselwirkung am Höhepunkt der Krise schafft nun auch die Mittel zu deren Überwindung. Da helfen also sogar die Datenautobahnen mit. Binnen einer Generation wird die Mehrheit überall erkennen, warum es mit Menschheit und Biosphäre abwärts geht – und wie der Absturz doch noch zu verhindern ist. Erst jetzt kann mit dem Willen auch Handlungsfähigkeit erwachsen.

Innerer Widerstand gegen zerstörerische Macht regt sich oft zunächst in Frauen. Natürlich schallt heute sogar angesehenen Frauen wie Viviane Forrester oder Marion Dönhoff, die ihre Stimme gegen die "Unmoral" des Kapitalismus erheben, sogleich entgegen: Deine Skrupel und dein Gerechtigkeitsgefühl in Ehren – aber du verstehst eben nichts von der Wirtschaft! Du lebst in einer Traumwelt – wie vor hundert Jahren Bertha von Suttner mit ihrem Ruf Die Waffen nieder! ... sie verstand eben nichts von Strategie und Taktik der Kriegskunst. Aber siehe da: Je näher die Wirklichkeit an die Abgründe rückt, um so näher kommt sie auch jener "Traumwelt". An gemeinsamer Abschaffung des Krieges wird immerhin schon ein bißchen gearbeitet – und auch das Ende der Ausbeutung wird praktisch vorstellbar. Wo der Wille einer Mehrheit hierfür Institutionen schaffen und sichern könnte, da beginnt das Gerede von der Utopie plötzlich zu klingen, als werfe man einem Vegetarier vor: Du verstehst eben nichts von fachgerechter Metzgerei.






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Vegetarier zu werden ist nicht schwer, da die meisten Fleischfresser keine Vegetarier fressen. Dagegen erfordert der Übergang zur pazifistischen Weltgesellschaft natürlich Institutionen gegen Aggressoren. Wie die Arbeit hieran von Keimzellen ausgehen könnte, in denen die nationale Rüstung zunächst auf "strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" gegenüber den Nachbarn umgestellt wird, ist schon vielfach bedacht worden. Übernahme solcher Konzepte in Zusammenarbeit größerer Regionen wird schließlich zu einer Welt relativ kleiner Nationen führen, die alle gemeinsam ihren unabhängigen Bestand garantieren und durch regionale und weltweite "Einsatztruppen" jegliche Machtübernahme von außen oder innen verhindern. Nationale Streitkräfte wird es dann so wenig geben, wie es bei uns Maschinengewehre für den Schutz des eigenen Gartens gibt.

Die politische Verfassung derart weiterentwickelter Vereinter Nationen wird den Weltfrieden sichern und auch die innere politische Entartung der Mitglieder verhindern. Die Weltverfassung wird also auch einzelnen und Gruppen gewisse Grundrechte garantieren – wie die Menschenrechte und einige Minimalregeln zur Sicherung dezentraler Demokratie. Darüber hinaus aber wird die Vereinheitlichung nicht wachsen, sondern wieder abnehmen. Große Länder werden wieder mehr föderale Strukturen entwickeln, vor allem auch dort, wo ohnehin noch ethnische und sprachliche Eigenheiten lebendig sind oder wiederbelebt werden können. Wo Macht über Nachbarn oder eigene Minderheiten verfassungsmäßig ausgeschlossen ist, erlischt zwar die Konkurrenz um Macht, aber nicht etwa der Drang nach Abgrenzung. Auch in Familien geht es doch nicht darum, etwa sämtliche Individuen zu einem einzigen Organismus zu verschmelzen. Die Vielfalt ist ja, wie wir sahen, schon systemtheoretisch gesehen Grundvoraussetzung allen evolutionären Fortschritts. Und gesunder Nationalstolz ist keineswegs etwas unerfreuliches, wenn er sich nicht gegen andere richten kann – und wenn er, wie der Stolz des seelisch gesunden Individuums, im rechten Gleichgewicht mit angemessener Scham steht.

Die Idee einer "multikulturellen globalen Einheitsgesellschaft" ist ein Widerspruch in sich. Kultur entsteht und bewahrt sich gerade durch Abgrenzung. Richtig: Ihr allmählicher Fortschritt geschieht vor allem durch die Wechselwirkung mit anderen entlang den Grenzen und in gewissen regionalen Zentren, in denen sich Kulturen begegnen und auch ein wenig mischen. Aber diese Vermischung muß aufs Ganze gesehen langsam im Vergleich zum Menschenleben geschehen. Daraus folgen zum Beispiel allgemeine Verfassungsregeln für die nationale Einwanderungspolitik der Mitglieder einer künftigen Weltgesellschaft. Es gehört zu den wesentlichen Bildungszielen des kommenden Jahrhunderts, bezüglich solcher Fragen das ideologische Chaos in den Köpfen durch ein logisches Fundament zu ersetzen. Wie bei allen kritischen Fragen unserer Zeit geht es hier nicht um "Meinungsstreit" angesichts einer Menge beliebiger Möglichkeiten, sondern ums Tasten nach Leitideen, die zunächst wenigstens die logischen Voraussetzungen von Lebensfähigkeit erfüllen.






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Es mag zunächst lächerlich erscheinen, wenn ich behaupte, aus allgemeinen Gedanken über "Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise", folge auch etwas über die Wirtschaftsordnung, über das Geld- und Eigentumsrecht, das Steuer- und Rentensystem und sogar über das Bildungswesen des 21. Jahrhunderts. Zumal wenn doch, was daraus folgte, so offensichtlich den herrschenden Gewohnheiten und Sachzwängen zuwiderliefe. Aber was sagt uns die Logik, wenn wir auf einem immer steiler werdenden Hang auf einen Abgrund zu ins Rennen geraten sind? Immer regelmäßiger, immer schneller die Beine bewegen, um nicht ins Stolpern zu kommen? Welch ein Glück, wenn wir doch noch rechtzeitig stolpern und auf die Nase fallen! Gott sei Dank – die sogenannte Wirtschaft und die Finanzpolitik scheinen das nun für uns zu leisten, und noch finden sich ringsherum Wurzeln, an denen wir uns festklammern können. Rettende Ideen sind ganz nahe – und zwar nicht in den Köpfen weltfremder oder gewaltbereiter Spinner, sondern im Kern der Programme aller unserer politischen Parteien. Deshalb dürfen wir wohl selbst am Rande des Abgrunds guten Mutes sein, daß wir wieder werden hochklettern können.

Praktische politische Arbeit setzt die Kenntnis einer Farbenlehre voraus. Schauen wir also das Parteienspektrum an.

— Was ist der Kern der roten Ideen? Daß alle Menschen von Unterdrückung durch andere frei sein sollen; daß auch das Herausragen – durch Willenskraft, in geistigen Fähigkeiten, oder gar mit den Ellenbogen – kein Recht zur Versklavung und Ausbeutung anderer verschafft; daß aber die Befreiung nicht durch den Kampf einzelner, sondern durch Solidarität gewonnen werden muß.

— Näher zur Mitte des Spektrums hin wird das Rot zu Orange, und dieses geht ins Gelbe über. Was ist der Kern der gelben Ideen? Die Freiheit des Unternehmers! Zur geistigen Freiheit gehört auch wirtschaftliche Freiheit. Auch für materielle Güter soll es einen freien Markt geben, auf dem jeder nach seinen Bedürfnissen und Vorlieben wählen kann, und auch wenn Menschen einander Dienste leisten wollen und können, so sollen nicht andere dies verordnen oder verhindern. Ohne das Zappeln in Vielfalt geht die Aufstiegswahrscheinlichkeit gegen Null!

— Weiter zum Grünen: Daß es zum Roten komplementär ist, bedeutet bekanntlich nicht Gegensatz, sondern Ergänzung. Die noch junge grüne Bewegung entsprang der Einsicht, daß die Freiheit des Menschen seine eigenen Wurzeln, nämlich die ganze Biosphäre bedroht. Dies war zwar schon lange zu ahnen, aber erst nahe dem Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise konnte es für die Mehrheit manifest werden. So stehen die Grünen nun wohl zurecht in der Mitte des Spektrums, und längst bedienen sich alle anderen bei ihren Ideen.

— Die Blauen sind in der deutschen Politik als Organisation noch recht unscheinbar. Die "Ökologischen Demokraten" haben sich diese Farbe gewählt – wohl um sich vom allzu weltlichen Grün zum priesterlichen Violett hin abzusetzen, oder um auszudrücken, daß das Gelbe ohne sein Komplement reiner Neid wäre – jener schon erwähnte Neid der Reichen auf die Armen und die zugehörige rücksichtslose Gier.

— Das Violette, das für die Betonung des Spirituellen steht, wird in unserem politischen Spektrum übersprungen, wobei man bekanntlich im unsichtbaren Bereich landet, also im Schwarzen. Die violette Ahnung, daß der Aufstieg des siebten Tages an der spezifisch menschlichen Front in der "geistigen Welt", also letztlich im "Gespräch mit Gott" gefunden wird, spielt bei den Schwarzen wohl nur noch in den Parteinamen eine Rolle. Im Übrigen steht Schwarz eher für die vollständige Unsichtbarkeit irgendwelcher Ideen und für den reinen Willen zur Macht.

— Andererseits schließen sich ja die Farben des Regenbogens für unsere Wahrnehmung im Kreise – und so steht das Violette durchaus dem Roten nahe. Woraus entspringt denn letztlich die rote "Gleichmacherei"? Aus der Einsicht, daß der siebte Tag auch in der Gesellschaftspolitik angebrochen ist. Wenn an der neuen Front, an der die Schöpfung zu Höherem fortschreitet, "vor Gott alle gleich sind", wie man sagt, so bedeutet das selbstverständlich, daß die Lebensgrundlagen, um die an früheren Schöpfungstagen gerungen werden mußte, nun von allen gemeinsam gesichert werden sollen. Nur dann nämlich ist der Mensch wirklich frei zur Entfaltung seiner höheren Fähigkeiten. Wie verschieden weit diese Fähigkeiten bei verschiedenen Menschen auch immer reichen mögen, sie dürfen nicht andere in dieser Freiheit behindern oder gar deren Versklavung durch Aneignung ihrer Lebensgrundlagen ermöglichen. Zu diesen lila-roten Ideen gehört also auch, daß der "Arme im Geiste", der pflegebedürftige Kranke, und selbstverständlich auch der "Seelenpflegebedürftige" vor Gott nicht tiefer steht. Auch er muß an der Sicherung der Lebensgrundlagen teilhaben.

— Um die Farbenlehre abzuschließen: Braun ist keine Farbe des Regenbogens und wird im neuen Bund der Ideen nicht vorkommen. Seine Attraktivität hatte aber natürlich damit zu tun, daß im faschistischen Ideenbündel auch Strähnen schöner Farben eingeflochten waren – freilich teuflisch verknotet, um die Macht der Finsternis zu verbrämen. Dieser Mißbrauch sollte nun aber nicht dazu führen, daß die Idee des Nationalen verteufelt wird. Das Volk, definiert vor allem durch eigene Sprache und Kulturgeschichte, wird in der neuen Weltordnung – mehr sogar als in der kapitalistischen – durchaus eine wesentliche Rolle spielen.






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Die politische und kulturelle Vielfalt der Menschheit setzt voraus, daß die wirtschaftliche Verflechtung drastisch reduziert wird. Dies ist angesichts der künftigen Fähigkeit, alle wesentlichen Bedürfnisse mit relativ wenig Arbeit lokal abzudecken, eigentlich eine logische Selbstverständlichkeit. Die Übertreibung des Welthandels, und gar der internationalen Finanzmärkte, dient fast ausschließlich den Ausbeutungsstrategien des Kapitals, der Aneignung der Lebensgrundlagen von noch mehr Armen durch noch weniger Reiche. Angesichts der heutigen Entwicklungen noch immer Ricardos simple Beispiele für "rationelleres" Wirtschaften in internationaler Arbeitsteilung heranzuziehen, um weitere Globalisierung zu empfehlen, ist unverschämt oder einfach lächerlich. Auch wer den systemtheoretischen Hintergrund des Wesens der Krise noch nicht versteht, muß doch beim Anschauen der Welt wenigstens die offensichtlichen inneren Widersprüche der alten Lehren wahrgenommen haben.

Der Ausstieg aus dem globalen Wirtschaftskrieg erscheint heute den Wirtschaftsfachleuten als ebenso unmöglich, wie vor hundert Jahren den Generalen ein Ausstieg aus der Rüstung zum ersten Weltkrieg. Der Schritt zum Nachdenken über eigene "strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" – als erste Stufe zur Organisation allgemeinen Friedens – brauchte fast hundert Jahre. Die allgemeine Beschleunigung macht es nun absehbar, daß bald an besonderen Engstellen die Idee einer "strukturellen Nichtausbeutungsfähigkeit" (nach innen und außen) aufkeimt und sich dann sehr viel schneller ausbreitet.

Wie und wo das geschehen könnte? Über die Details eines so komplexen "Phasenübergangs" kann man schlecht plausibel spekulieren. Das Muster aber, dem das Ganze zustreben und in das es schließlich "umkippen" wird, beginnt sich bereits abzuzeichnen. Es enthält sämtliche Farben unseres politischen Spektrums in ziemlich ausgewogener Mischung. Herausleuchtend ist allerdings das Orange – jener Übergang zwischen Rot und Gelb, der an die Ideen gewaltloser Anarchisten erinnert (– nicht an deren schwarze Fahne). Recht verstanden bedeutet ja deren "Herrschaftslosigkeit" nicht etwa Chaos, sondern solidarische Selbstorganisation der Freiheit aller gegen staatliche und wirtschaftliche Macht – also genau das, was ich hier "Freiheit des siebten Tages" nenne. Von Hörern meiner Vorträge habe ich gelernt, daß Piotr Kropotkin und Gustav Landauer offenbar auf sehr ähnliche Spuren geraten waren wie ich. Erstaunlich wäre das nicht, denn um diese Freiheit ringen Menschen seit mehr als zwei Jahrtausenden. Freilich ist erst in den fast 80 Jahren seit der Ermordung Landauers (im Münchener Gefängnis) die globale Beschleunigungskrise in ihr Endstadium getreten, und so ist sicherlich über alle Details neu nachzudenken.

Hier kann ich nur kurz andeuten, wie wir uns einige wesentliche Züge der vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft vorstellen könnten – vor allem das Steuersystem und die gerechte Verteilung der "leistungslosen Einkommen".

Gemeinschaftsaufgaben werden in fünfzig Jahren nicht mehr aus der Besteuerung sinnvoller und erwünschter Tätigkeiten finanziert werden, sondern allein aus Steuern schädlicher Aktivitäten – das heißt solche, die von der Mehrheit als schädlich erkannt sind. Fast alle heutigen Steuern für Bund, Länder und Kommunen sind dann weggefallen. Die Steuerformen, die an ihre Stelle treten, nenne ich gern Minderwertsteuer und Größenbegrenzungssteuer. Die Minderwertsteuer trifft alle nicht erneuerbaren Formen von Energie und Rohstoffen bei der Entnahme aus der Erde oder bei der Einfuhr, und darüber hinaus zum Beispiel alle Verarbeitungs- und Entsorgungsprozesse, bei denen Schadstoffe freigesetzt werden. Man könnte diese Steuer aufs "Durcheinanderwerfen der Biosphäre" auch als "Entropiesteuer" bezeichnen. (Auf Englisch käme in Anlehnung an den Namen VAT der Mehrwertsteuer – für value added tax – etwa die Bezeichnung TAT – für trashiness added tax – infrage...)

Gegen eine solche Besteuerungsform, die ja als "Ökosteuer" schon lange im Gespräch ist, wird noch immer mit absurden Argumenten polemisiert. Man muß aber nur eine einzige Zahl anschauen, um die Vernunft und das ungeheure Steuerungspotential in diesem Konzept zu erkennen. Fragen wir doch: Wie hoch müßte eine reine Energiesteuer sein, wenn sie sämtliche heutigen Steuereinnahmen ersetzen sollte? Das ist leicht auszurechnen: Der durchschnittliche deutsche Primärenergieverbrauch liegt nahe 5,5 Kilowatt pro Einwohner, das heißt ein wenig unter 50.000 Kilowattstunden pro Kopf und Jahr. Um das gesamte Steueraufkommen von etwa dreiviertel Billionen Mark zu ersetzen, müßten also nur etwa 20 Pfennig Steuer pro Kilowattstunde Primärenergie erhoben werden. Das würde etwa 60 Pfennig Steuer pro Kilowattstunde elektrischen Stroms und etwas über zwei Mark pro Liter Öl bedeuten. Könnte das wirklich "die Wirtschaft ruinieren", wenn doch dafür alle anderen Steuern wegfielen?

Natürlich würde eine solche Steuer nicht über Nacht eingeführt, sondern schrittweise. Dann würde die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas allmählich zurückgedrängt. Das wäre ja der Sinn der Sache, denn die nächsten beiden Generationen müssen es schaffen, den heutigen Verbrauch an fossilen Energieträgern praktisch vollständig durch Sonnenenergie zu ersetzen (wozu im weiteren Sinne auch Wasser- und Windenergie gehören). Man würde also die Höhe der Steuer auf fossile Energie mit dem sinkenden Verbrauch steigen lassen, bis dieses Ziel erreicht ist. Danach würde aber nicht etwa Mangel an Besteuerungsgrundlagen herrschen, denn auch alle anderen frisch entnommenen Rohstoffe (einschließlich des Grundwassers) und viele industrielle Prozesse würden ja besteuert. Die katastrophale Entropieerzeugung durch den Menschen wird noch auf sehr lange Sicht ständig weiter reduziert werden müssen, um die Biosphäre zu schonen. Eine regelmäßige Anpassung des "Entropiesteuersatzes" an die jeweils nötigen und möglichen Reduktionsstrategien ist das einzig logische Mittel, um eine entsprechende Entwicklung von Techniken und Lebensgewohnheiten zu bewirken.

Der zweite Hauptteil der künftigen Steuerbasis ist ebenfalls leicht zu begründen. Wie wir sahen, muß der selektive Vorteil der Organisation im Großen und der schnellen globalen Innovation beschränkt werden, um auf der endlichen Erde "Vielfalt und Gemächlichkeit" zu sichern – jene logischen Voraussetzungen wirklicher Wertschöpfung. Die einzig notwendige Organisation im Großen ist also die Schaffung und Sicherung der globalen Verfassung mit eben diesem Ziel. Dagegen wird das ständige Anwachsen wirtschaftlicher Machtstrukturen grundsätzlich zu behindern sein, wo dies nach Abschaffung des leistungslosen Vermögenswachstums noch nötig ist. Solche Größenbeschränkung wird sich mit relativ wenig Bürokratie erreichen lassen, wenn Steuern auf die Größe von Unternehmen und Eigentum und die Menge gewisser Produkte erhoben werden, die jenseits spezifischer Freigrenzen mit einer rasch steiler werdenden Funktion gewisser Größenmerkmale anwachsen. Anschauliche Beispiele: Die Besteuerung wächst mit dem Quadrat der Zahl der Betten eines Hotels oder der Zahl der Läden in einer "Ladenkette" – oder exponentiell mit der Einschaltquote einer Fernsehsendung, oder mit der Anzahl von Häusern oder dem Wert von Produktionsmitteln im Besitz einer Person oder Personengruppe. Das hört sich kompliziert an, wäre aber wahrscheinlich noch immer mit wesentlich weniger bürokratischem Aufwand verbunden, als das heutige Steuersystem.

Bei Aktivitäten mit besonders schädlichen Folgen ist natürlich ein vollständiges Verbot angebracht, doch wo es um die Steuerung angepaßter Reduktionsstrategien für zerstörerisches Handeln oder Machtkonzentrationen geht, die nicht einfach sofort abgeschafft werden können, sind Minderwertsteuer und Größenbegrenzungssteuer vermutlich die geeigneteren Mittel. Eine Änderung der Besteuerungsparameter sollte dabei im allgemeinen nur allmählich, in voraussehbaren Schritten über Jahre hinweg erfolgen.

Da die moderne Gesellschaft so schrecklich viel Schaden anrichtet, wird es wohl zweckmäßig sein, die gesamte Steuerlast nach diesen Prinzipien noch höher anzusetzen als die heutigen Steuereinnahmen. So könnten die menschliche Arbeit von allen "Sozialabgaben" entlastet und die Lebensgrundlagen aller allein durch Besteuerung der Dummheiten der ganzen Gesellschaft finanziert werden.






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Nun zum Umgang mit den "leistungslosen Einkommen". Wenn solche möglich sind, stellen sie natürlich eine gemeinsame Kulturleistung dar und sollten deshalb dazu dienen, die Grundbedürfnisse aller Bürger zu decken – vor allem zunächst die der Kinder, Kranken und Alten. Was die Gesellschaft heute durch die sogenannte Kapitalbedienung in Form von Zinsen und anderen Erträgen als "Sozialhilfe für die Reichen" aufbringt, um deren Vermögen wachsen zu lassen, das sollte also den Grundstock eines "Bürgergeldes" bilden. Die Summe all dieser leistungslosen Einkommen ist nicht einmal den Finanzspezialisten recht bekannt, aber sie dürfte heute in Deutschland in der Nähe des gesamten Steueraufkommens liegen. Dieses entspricht pro Kopf fast zehntausend Mark jährlich, also an die zweitausend Mark monatlich pro bezahlten Arbeitsplatz. Über diese Art von "Beschäftigungsnebenkosten", die – von der Miete bis zur Bedienung der Staatsverschuldung – in jeder Zahlung versteckt sind und beim zunehmenden Abwürgen unserer Wirtschaft die weitaus wichtigste Rolle spielen, wagt noch immer kaum jemand zu sprechen.

Diese gewaltigen gesellschaftlichen Leistungen den Reichen zu entziehen und statt dessen der Allgemeinheit zukommen zu lassen, erfordert natürlich eine drastische Änderung des Geld- und Bodenrechts und des verfassungsmäßigen Eigentumsrechts überhaupt – auch schon im Zusammenhang mit der Größenbegrenzungssteuer. Ein neues Eigentumsrecht wird also erst verwirklichbar, wenn mindestens zwei Drittel der Bevölkerung verstanden haben, welche Vorteile daraus für sie selbst und das Ganze erwachsen werden. Dieses Verständnis wird aber vermutlich demnächst rasch zunehmen, weil immer absurdere und schemenhaftere wirtschaftliche Phänomene erkennen lassen, daß die Leitideen der kapitalistischen Ordnung nicht durch die Krise hindurchführen, sondern in inneren Widersprüchen enden.

Dagegen sind die Alternativen im Grundsatz so einleuchtend und schon für den "gesunden Menschenverstand" so offensichtlich lebens- und entwicklungsfähig, daß man bald bereit sein wird, die Verfassung zu ändern, um jene verfassungsmäßigen Zwänge zu beseitigen, die heute Natur und Menschen an die abwärts führende Spirale fesseln. Immer mehr Leute aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen beginnen, nach den tieferen Gründen unseres Versagens vor den wichtigsten Problemen zu fragen. Und bald wird die "Macht des Geldes" nicht mehr ausreichen, um politische Wirkungen dieses Fragens zu verhindern.

Die detaillierte Diskussion der nötigen Änderungen im Geld- und Eigentumsrecht, die naturgemäß heute noch aus der sogenannten Wirtschaftswissenschaft verbannt ist, hat längst begonnen. Eine wichtige Idee ist wahrscheinlich die eines "neutralen Geldes", das sich nicht schon durchs "Haben" vermehren kann, das aber durch eine in die Geldordnung eingebaute Umlaufsicherung um so besser seine eigentliche Aufgabe erfüllt – nämlich die Erleichterung des Austauschs von Waren und Dienstleistungen. Auch im Umkreis der vielen entstehenden "Tauschringe" (auch LETS genannt – für local exchange trading systems) beginnt systematischeres Nachdenken über fundamentale Mängel der heutigen Geldordnung. Gerade hier liegt ja die Frage besonders nahe, warum eigentlich immer, wenn zwei Menschen etwas füreinander tun wollen, bei anonymen Dritten ein Konto wachsen muß.

Die damit zusammenhängende Diskussion über Zins und Zinseszins, die ja mindestens seit Moses dokumentiert ist, wurde im zwanzigsten Jahrhundert vor allem von den sogenannten "Freiwirtschaftlern" weitergeführt. Dabei war stets klar, daß Änderungen in der Geldordnung allein nicht ausreichen können, um die Aneignung fremder Lebensgrundlagen und die darin liegende "Fortsetzung der Sklaverei" zu beschränken. So schlug einer der Vater der Freiwirtschaft, Silvio Gesell, bereits vor hundert Jahren vor, die reine Bodenrente zu kommunalisieren und allen Kindern des Landes zukommen zu lassen. Es widerspricht ja schon lange jeder Vernunft, daß sich eine Minderheit immer mehr von der Erde aneignen darf – obendrein zunehmend aus leistungslosen Einkommen und "Wettgewinnen". Die in dieser Beziehung bei uns erfolgreich geschürte Begriffsverwirrung hatte Klaus Staeck einmal mit einem schönen Wahlplakat satirisch aufgespießt: Deutscher Arbeiter! Die SPD will Dir Dein Häuschen im Tessin wegnehmen!

Großer Widerstand gegen Änderungen wirtschaftlicher Grundstrukturen wird natürlich aus den Zwängen infolge internationaler Verflechtungen erwachsen. Ein Land, das zur Keimzelle solcher Entwicklungen werden möchte, müßte ja zunächst aus vielen Verträgen aussteigen. Das internationale Finanzkapital, WTO und Weltbank, amerikanische Regierung und europäische Kommission – sie alle würden selbstverständlich massiven Druck ausüben, falls in einem Land die Mehrheit auf solche Ideen käme. Selbst bei großen demokratischen Mehrheiten wäre da mit "Strafmaßnahmen" aller Art zu rechnen. Eine wirkliche Abkoppelung vom globalen Wahn ist daher wohl erst vorstellbar, wenn dieser bereits so tief in Turbulenzen geführt hat, daß ohnehin fast alle nur noch mit sich selbst beschäftigt sind – weil klar ist, daß entlang den alten Prinzipien gar keine lebensfähige Lösung in globalem Einverständnis mehr zustande kommen kann.

Schwer vorstellbar, aber nicht unmöglich, ist auch, daß gerade in Europa schon vor derartigen Krisensituationen die hier angedeutete "meta-ökonomische" Diskussion so weit den Boden bereitet hat, daß die europäische Union gemeinsam zu einer anderen Wirtschaftsordnung umschwenken kann. Ihr Gewicht wäre dann wohl groß genug, um rasch die ganze Welt nachfolgen zu lassen. Es ist aber, wie gesagt, unsinnig, sich schon jetzt den Übergang im Detail auszumalen. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, nach den lebensfähigen Ideen zu tasten, die "nach der Krise" weiterführen können. Im entscheidenden Moment müssen diese Ideen schon hinreichend durchdacht und einer nicht mehr vernachlässigbaren Minderheit von "Meinungsführern" plausibel gemacht sein, damit sie im Absturz erreichbar sind und uns auffangen können.

Deshalb ist es besonders wichtig, klarzumachen, daß das Ende des absurden Vermögenswachstums (dem ja großenteils nicht einmal wirkliche Wertschöpfung sondern ein Zerstörungsprozeß zugrunde liegt), die Einführung von Bürgergeld und Grundrente und die radikale Steuerreform nicht etwa "die Wirtschaft schädigen" würden. Ganz im Gegenteil: Eine wirtschaftliche Blüte würde einsetzen, wenn die Fessel der Kapitalbedienung gesprengt wäre. Sogar das auf übliche Weise gemessene Sozialprodukt wüchse zunächst beträchtlich, weil wieder alle viel stärker am Wirtschaftsprozeß teilnehmen könnten. Was gibt es heute nicht für einen gewaltigen Bedarf an Gütern und Dienstleistungen bei jenen, die sich fast nichts leisten können, weil sie arbeitslos sind oder einen so großen Teil ihres Einkommens ins Vermögenswachstum anderer stecken müssen. Man erinnere sich: Etwa drei Viertel der durchschnittlichen Miete entfallen bei uns auf Zinsen, dienen also dem Vermögenswachstum anderer. Auf Iängere Sicht freilich könnte und dürfte das Sozialprodukt nur langsam wachsen – weil ja wirkliche Wertschöpfung nur im Zeitmaßstab der Generationenfolge gelingen kann.






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In der neuen Gesellschaft werden viel mehr Menschen am Wirtschaftsleben teilnehmen, ohne einen Arbeitsplatz in der Industrie oder im Öffentlichen Dienst zu haben. Tatsächlich wird ein großer Teil des letzteren einfach verschwinden. Es gibt "viel weniger Staat". Und auch die Industrie beschäftigt nicht viele – wegen der Automatisierung und wegen der größeren Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit der Produkte. Auch die großen Baufirmen verschwinden natürlich, wenn Gebäude für Generationen gebaut sind und nicht durch Bomben vernichtet werden. Aber dafür gibt es wieder viele Handwerker und andere kleine Dienstleistungsunternehmen. (Sogar ein Wissenschaftler mit Kindern wird es sich leisten können, einen Installateur zur Reparatur seiner Küchenarmatur zu rufen, statt ein Wochenende auf dem Boden kriechend zu verbringen, weil selbst ein Schwarzarbeiter zu teuer käme...).

Schwarzarbeit – welch irrsinniges Konzept! Jeder wird frei sein, zu arbeiten, was und wieviel er will und kann. Leistung wird sich wieder lohnen. Sind dann nicht alle "gelben Ideen" verwirklicht?- Sogar Gewerkschaften und Tarifverträge werden weitgehend überflüssig – aber auch ein großer Teil der Gefängnisse, denn nicht einmal die Mafia lohnt sich noch. Dafür werden Theater nur so aus dem Boden schießen – ganz ohne öffentliche Subventionen – und sie werden um ein viel größeres Publikum konkurrieren als heute. Selbst in Konzerten berühmter Musiker wird man auch Eltern mit Kindern sehen. Was man sich alles leistet! So billig ist zum Beispiel das Wohnen geworden, wenn dieses Grundbedürfnis nicht mehr zur Ausbeutung mißbraucht werden kann.

Habe ich Wichtiges vergessen? Ach ja. natürlich – die Bildung im 21. Jahrhundert. Kindergärten, Schulen und Universitäten werden Gebühren erheben, und vielleicht verlangen sogar manche Meister wieder Lehrgelder! Aber das Geld für Erziehung und Ausbildung wird den Kindern und Jugendlichen zuvor in Form von Gutscheinen zur Verfügung gestellt! Dies wird als selbstverständlicher erscheinen als die heutigen "Eigentumsrechte". Im übrigen aber ist dann das ganze Erziehungs- und Bildungswesen weitgehend privatisiert. Schulen konkurrieren um Schüler und die jeweils geeignetsten Lehrer, Universitäten um Professoren und Studenten. Welche Vielfalt von Wahlmöglichkeiten! Welcher Wettbewerb! Aber wer in ihm nicht besteht, geht nicht unter. Die Lebensgrundlagen sind für alle gesichert. Überall fröhliche Menschen. Singen und Spielen hört man sie. Das muß wohl das "Jubilieren zum Lobe Gottes" sein, das den siebten Tag charakterisieren soll. Aber jeder, der etwas tun will, wird etwas zu tun finden, was seinen Fähigkeiten und Vorlieben entspricht. Wetten, daß fast jeder etwas wird tun wollen?

Kultusministerien werden allerdings wenig zu tun haben. Selbst die "Aufsicht" wird wahrscheinlich weitgehend durch die Konkurrenz ersetzt – allerdings einer Konkurrenz um etwas höhere Ideen als die der Aneignung. Vielleicht kann sich der Staat noch ein wenig in die Stipendienvergabe für begabte Studenten einmischen – denn natürlich bekommt niemand ohne Leistungsnachweise die Studiengebühren ersetzt, jedenfalls nicht ab einem Alter von – sagen wir – 21 Jahren. Aber angesichts des vielen Geldes, das in der blühenden Wirtschaft umliefe, dürften sogar Stipendien oft durch private Spenden oder Darlehen finanziert werden. ("Neutrales Geld" wird ja stets auf der Suche nach werterhaltender Investition sein, weil ihm die Aneignung und Ausbeutung von Lebensgrundlagen versperrt ist und weil es gewissermaßen "verrostet", wenn es nicht durch ständigen Umlauf aufgefrischt wird.)

Übrigens wird auch für die Entwicklung von Lehrplänen und die Formulierung von Bildungszielen kein Ministerium mehr nötig sein. Das regelt sich alles durch Angebot und Nachfrage auf dem freien Markt, ganz ohne Bürokratie. Was die Zeugnisse verschiedener Schulen oder Universitäten wert sind, spricht sich herum – und außerdem schaut man sich Stellenbewerber auch unter anderen Gesichtspunkten als Noten und Punkten an (– und sogar entlassen kann man sie ganz leicht wieder, wenn man diese Möglichkeit vertraglich vorgesehen hat). Freilich – Minderwertsteuern, Größenbegrenzungssteuem, Abschaffung der Subventionierung des Kapitals – lauter Schranken in diesem Märchenland der goldenen Jahre des 21. Jahrhunderts! Ist das alles nicht doch Ausdruck strenger Regulierung? Es kommt doch nicht von allein!

In der Tat. Auch die befreiende Kulturleistung des siebten Tages wird selbstverständlich eine Folge von Selbstbeschränkung sein – wie jeder gelungene Schritt der Selbstorganisation im Schöpfungsprozeß – wie immer, wenn eine attraktive Gestalt gefunden wird, die nicht so bald wieder verlassen werden muß. Fast alles, was gut war, bleibt ja. Das Falsche, das nicht mehr Lebensfähige ist es, was beschränkt wird. Jammern wir nicht länger über die kapitalistischen und neoliberalen Lehren, die uns weismachen, an der komplexesten Front im Raum der Möglichkeiten seien das Wachstum der Vermögen und des klassischen Sozialprodukts geeignete Kriterien für die Beurteilung der Lebensfähigkeit. Lachen wir endlich darüber, und verlassen wir diese Ideen. Sie mögen ein unvermeidbares Stück des Weges durch die Kindheit der Menschengesellschaft gewesen sein – sich aber im Erwachsenwerden weiterhin an solche Ideen zu klammern, das ist kindisch.