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Zwei
oder gar drei Nullen in der Jahreszahl pflegen allerlei Propheten
anzustacheln. Wie es vor tausend Jahren im christlichen Abendland
zuging (als die Null dort noch unbekannt war), erzählt man
sich noch heute: Es wimmelte nur so von Untergangspredigern.
Viele Leute glaubten ihnen, schlossen sich Büßerkolonnen
an und geißelten sich oder verpraßten ihr Eigentum,
das ja bald nichts mehr nützen würde. Sogar
Massenselbstmorde soll es gegeben haben. Inzwischen hat freilich
die wissenschaftliche Aufklärung stattgefunden, und einen
von Gott verhängten Weltuntergang muß niemand mehr
fürchten. Der Mensch ist erwachsen geworden und hat auch
diese Aufgabe in eigener Verantwortung übernommen.
Die
Denker der Aufklärung mußten wohl erwarten, daß
Angst und Ratlosigkeit damit überwunden seien. Woher also
das Gefühl des Ausgeliefertseins, das immer mehr Menschen
befällt und sie gar wieder in religiösem oder
nationalistischem Fundamentalismus Zuflucht suchen läßt?
Ist das nur die gerne zitierte Dummheit und Unbildung der
sogenannten Massen? Zwar wäre nach einigen Jahrhunderten
wissenschaftlicher Aufklärung und Belehrung auch dies ein
erklärungsbedürftiges Phänomen – aber, siehe
da, es sind gar nicht so sehr die Dummen, die Schwierigkeiten mit
dem modernen Weltbild haben. Vielmehr fallen schon aufgeweckten
Kindern allerlei Fragen zu den modernen Mythen und Schlagworten
ein, mit denen sich die Mehrheit noch füttern und stillen
läßt. Gott sei Dank – wir werden später
sehen, was damit gemeint sein kann – wühlen auch in
Erwachsenen solche Kinderfragen weiter. Das Unbewußte läßt
sich selbst bei Verstopfung aller rationalen Aufnahmekanäle
nicht völlig von der Realität abschneiden. Und
ebendiese Wühlarbeit hatte ja in Fragen und Antworten
Tausender von Generationen die alten Bilder geschaffen, die dem
Menschen seinen Platz und seine Möglichkeiten im Rahmen des
Weltganzen zeigten – bis dann alle diese Götterbilder
im Lichte der wissenschaftlichen Aufklärung verblassen
mußten und ihr ganzer Himmel als Menschenwerk durchsichtig
wurde.
Was wurde dahinter sichtbar?
Der Abgrund des astronomischen Weltalls und die nebelhafte Ahnung
von einem physikalischen Nichts an dessen Anfang, aus dem im
Laufe der viele Milliarden Jahre währenden evolutionären
Selbstorganisation doch nichts als Materie in Raum und Zeit
hervorgehen konnte. Sogar sich selbst mußte der Mensch als
eine Gestalt dieser materiellen Wirklichkeit zu begreifen
beginnen. Auch die Aktivitätsmuster seines Großhirns,
in denen sich das Ichbewußtsein und alle anderen
seelisch-geistigen Fähigkeiten verwirklichten, sind als
Strukturen in Raum und Zeit erkennbar – zwar unermeßlich
viel reicher, aber nicht von grundsätzlich anderer Natur als
alle andere materielle Realität. Nichts ist also im Laufe
dieser Aufklärung an die Stelle der alten mythischen Bilder
zur Weltdeutung getreten, die dem Menschen eine Ethik für
sein Leben und Zuversicht für seinen Tod gegeben
hatten.
Nun waren aber diese
Vorstellungen im Laufe der evolutionären Selbstorganisation
von Geist und Kultur nicht als unnütze Triebe am Baum des
Lebens gewachsen, die sich einfach folgenlos abschneiden ließen.
Vielmehr entstanden sie ja gemeinsam und in raffiniertem
Wechselspiel mit entsprechenden seelischen Bedürfnissen, die
großenteils „instinktive“, also genetisch
fixierte Wurzeln haben. Im Rahmen des modernen Weltbildes ist
natürlich auch die Entwicklung des Menschen, einschließlich
der gesamten Kultur- und Geistesgeschichte, nichts anderes als
die Fortsetzung dieses koevolutionären
Selbstorganisationsprozesses – nur eben auf dem nun
erreichten noch höheren Komplexitätsniveau. Schließlich
ist auch die wissenschaftliche Aufklärung selbst Teil dieses
Prozesses. Wenn sie uns in die Krise geführt hat, kann dies
nur bedeuten, daß hier die Selbstorganisation in
überlebenswichtigen Punkten noch nicht gelungen ist. Können
wir diese Fehlstellen benennen? Viele haben wenigstens eine vage
Ahnung davon, wo sie zu suchen sind: Weder paßt unser
Weltbild mit unseren fundamentalen seelisch-geistigen
Bedürfnissen zusammen, noch haben wir die durch das Prinzip
der Schöpfung gesetzten Grenzen unserer eigenen Kreativität
richtig erkannt. Kein Wunder, daß wir auf gefährliche
Abwege geraten sind, daß nun der Weltuntergang zu einem
wissenschaftlich faßbaren Phänomen zu werden beginnt,
und daß das Schweigen der Mehrheit jederzeit in
Angstgeschrei umzukippen droht, wenn Zeichen am Himmel
erscheinen.
Angst gilt als irrational,
weil sie ihren Gegenstand nicht klar benennen kann. Sie ist aber
von der menschlichen Evolution her gesehen höchst
vernünftig: Sie ermöglicht den richtigen Umgang mit dem
Unvorhersehbaren. Wo wir mit unserem durch Erfahrung gewonnenen
Wissen und Denken die Zukunft nicht abschätzen können,
rät uns die Angst, so zu handeln, daß die
Wahrscheinlichkeit für das Eintreten von Unvorhersehbarem
sich verringert. Millionen Jahre lang mußten nämlich
unsere Ahnen erfahren, daß Unvorhergesehenes wahrscheinlich
mehr Risiken als Chancen mit sich bringt. Wo Vorsicht nicht
genügt, weil Voraussicht unmöglich ist, tritt deshalb
Angst an ihre Stelle. Zunächst bewirkt sie ein Verharren,
also das Vermeiden möglichst jeder Neuerung. Erst wenn etwa
trotz dieser „Innovationsfurcht“ etwas ungewohntes,
bedrohliches Neues hereingebrochen ist, folgt die Panikreaktion,
die als uraltes Erbe aus dem Tierreich ebenfalls ihren guten Sinn
hat: Angesichts einer unmittelbaren Bedrohung, der mit gewohnten
Flucht- oder Angriffstrategien nicht beizukommen ist, könnten
unkontrollierte, wilde Flucht oder wahlloses Umsichschlagen
immerhin noch Überlebenschancen bieten. Wie gut, daß
wir über all das hinaus sind – nicht wahr? Wir
brauchen bekanntlich nur die immer schnellere Innovation, um den
unerwarteten Bedrohungen zu entgehen! Oder ist das etwa schon
Panik?
Ich will in diesem Buch
zunächst daran erinnern, welche Zeichen am Himmel und auf
der Erde uns angst machen müssen. Über diese
Untergangssymptome gibt es schon viele Bücher, jedoch
verstärken die meisten nur den ohnehin rasch wachsenden
Fatalismus. Wo etwa doch Optimismus anklingt, ist er meist hohl
wie politische Festtagsreden. Die wirklichen Zusammenhänge
werden höchstens sehr verschwommen wahrgenommen, schon weil
kaum jemand es wagt, sich jenseits seiner administrativ
anerkannten „Qualifikation“ für zuständig
zu halten. Woran es fehlt, ist ein überzeugendes Weltbild,
in dem den Anführern wie den Mitläufern des
Fortschritts die eigene Begriffsverwirrung und das Ausbleiben
eines längst fälligen Aufklärungsschrittes als
tiefere Ursache des menschlichen Versagens deutlich werden, ohne
daß daraus Resignation oder Verzweiflung erwüchsen.
Ich möchte deshalb versuchen klarzumachen, daß alle
diese „Zeichen am Himmel“ Symptome einer schon im
Schöpfungsprinzip angelegten, rational einsehbaren Krise
sind, in der weder das Verharren noch wilde Flucht, noch
hektisches Umsichschlagen uns irgendwelche Überlebenschancen
bieten. Völlig neue Ansätze zur Selbstorganisation der
menschlichen Freiheit werden notwendig sein. Vielleicht kann ich
klarer machen, wo sie zu suchen und zu finden sein werden.
Es
geht nicht um Schuldzuweisungen. Das im Prinzip seit jeher
übliche und bisher stets hinreichend erfolgversprechende
menschliche Verhalten hat die Menschheit und die ganze irdische
Lebenswelt unvermeidlich in diese Krise führen müssen,
die ich kurz „die globale Beschleunigungskrise“ zu
nennen pflege. Sie ist von den Naturgesetzen, ja schon von den
Gesetzen der Logik her, als singuläre Epoche der Geschichte
unseres Planeten zu erkennen, und wir können trotz der
ungeheuren Komplexität des Gesamtsystems von „Mensch
und Natur“ aus den logisch einfachsten Systemeigenschaften
erschließen, daß der Höhepunkt dieser Krise,
also ihre Entscheidung, in unsere und unserer Kinder Lebenszeit
fällt.
Wenn es den
Menschengenerationen, die die bevorstehende Jahrtausendwende
erleben, nicht gelingt, jenen noch ausstehenden Fortschritt der
Aufklärung zu leisten und weltweit im Bewußtsein zu
verankern, so wird der menschliche Geist nicht nur seine
bisherigen Werke vernichten, sondern sogar einen wesentlichen
Teil seiner biologischen Wurzeln. Und doch bietet die einfache
logische Struktur dieses Geschehens die Chance der Einsicht und
der Wende: Das Wesen der Krise liegt darin, daß das Große
und das Schnelle im Evolutionsprozeß einen
Selektionsvorteil haben und daß deshalb die
Innovationsgeschwindigkeit und die globale Vereinheitlichung so
lange zunehmen, bis das Neue nicht mehr in genügend vielen
unabhängigen Versuchen und nicht mehr hinreichend lange
ausprobiert werden kann. Deshalb passen die verschiedenen Teile
der Wirklichkeit immer weniger zusammen. Wie ich es
schlagwortartig zusammenzufassen pflege: Die logischen
Voraussetzungen erfolgreicher evolutionärer Wertschöpfung
sind verletzt, seit „Vielfalt und Gemächlichkeit“
durch „Einfalt und Raserei“ ersetzt wurden. Abbau und
schließlich Zusammenbruch der komplexen Ordnung von
Biosphäre und Gesellschaft setzen ein.
Wer
diesen Zusammenhang verstanden hat, der wird auch einsehen: Der
fehlende Schritt in der Selbstorganisation menschlicher Freiheit
kann nur darin bestehen, daß wir, sozusagen
verfassungsmäßig, alles Schnelle und Große
beschränken.
Um Sie als Leser von
derart verwegenen Einsichten und den notwendigen Folgerungen
überzeugen zu können, muß ich hier manches wieder
anklingen lassen, was ich schon zwei Jahrzehnte lang als eine Art
Wanderprediger zu verbreiten suche und was auch in meinem vorigen
Buch wiederzufinden ist („Das Grundgesetz vom Aufstieg“,
München 1989). Seither sind allein auf deutsch
Hunderttausende Bücher erschienen, und so ist kaum zu
erwarten, daß meine Gedanken vielen bekannt sind. Ich will
aber diesen Keim neuen Denkens nicht unter so vielen anderen
Kräutern und Unkräutern verkümmern lassen. Ich
lege hier einen Text vor, der im wesentlichen aus frei
gesprochenen Vorträgen erwachsen ist. Die Zwiesprache mit
dem Hörer habe ich in der schriftlichen Fassung weitgehend
beibehalten. Diesem Vortragscharakter entspricht es, daß
ich hier vieles, was ich schon früher schrieb und sagte,
unter etwas veränderten Gesichtspunkten darstelle. Mir ist
bewußt, wie unangemessen diese kleine Form ist. Der
Denkansatz ist ja so umfassend, daß ihm ein gewisser
„Größenwahn“ kaum abzusprechen ist. Doch
wenn es mir gelingen soll, etwas zum überlebensnotwendigen
Fortschritt des menschlichen Denkens beizutragen, werde ich wohl
ohne einiges Sendungsbewußtsein nicht auskommen. Vielleicht
kann man mir deshalb auch den stellenweise etwas
„traktätchenhaften“ und unsystematischen
Charakter des Buches verzeihen.
Die
eigentlich lächerliche Aufmerksamkeit, die jene drei Nullen
in der Jahreszahl erregen werden, sollten wir also für
Wesentlicheres benutzen: Es geht in der Tat um eine Revision
fundamentaler menschlicher Leitideen der letzten Jahrhunderte und
Jahrtausende, die sich zwar lange bewährt hatten, die aber
dennoch, ja schließlich ebendeshalb, in die Krise führen
mußten. Sich an die Aufregung über die Kalenderwende
anzuhängen, die so unendlich viel leeres Geschwätz
unserer Anführer und ihrer Medien auslösen wird, mag da
als fauler Trick erscheinen. Doch in der Erregung steigt die
Wahrnehmungsfähigkeit, und so wird es vielleicht gelingen,
ein wenig von der allgemeinen Aufmerksamkeit für die Nullen
auf das Wesen der globalen Beschleunigungskrise zu lenken. Wenn
wir dann erkannt haben, wie die drohende Naturkatastrophe in der
Natur des menschlichen Geistes organisiert wird und welche Rolle
dabei dem einzelnen Ich zukommt, wird uns plötzlich der Sinn
der Worte Hoffnung und
Verantwortung wieder
einleuchten: Wir können und dürfen mithelfen, in der
menschlichen Gesellschaft jene Voraussetzungen zu schaffen, unter
denen in unserer Krise die Entscheidung gegen den Untergang
fällt.
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