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Unsere
Welt ist krank. Das ist nicht der Befund eines über sie
geneigten Arztes, sondern ein sicheres Gefühl in uns selbst,
in uns als den am höchsten entwickelten Organen dieser Welt.
Und von uns selbst geht die Krankheit aus. Eine kleine, irgendwo
in uns versteckte Fehlinformation hat uns vergessen lassen, daß
Organe Teile eines Ganzen sind und diesem auch dienen müssen.
Wie die Krebszelle, die durch einen winzigen Fehler in der
Erbinformation ihres Kernes vergessen hat, welchen Platz sie im
Organismus hat, und die nun kein höheres Ziel mehr kennt als
die möglichst rasche Vermehrung ihrer selbst und ihres
vordergründigen Wohlergehens, so haben auch wir zu wuchern
begonnen. Der Stoffwechsel unserer Wirtschaft hat sich grenzenlos
ausgedehnt, und so verdrängen wir nun immer mehr andere
Organe der lebendigen Erde.
Die Tumoranalogie ist
frappierend: Es ist nicht so sehr die Erschöpfung der
Ressourcen, durch die schließlich der Tod einzutreten
droht, denn noch lange ließe sich genügend Nahrung und
Energie fürs Weiterwuchern heranschaffen – nein, es
ist vor allem das andere Ende des gewaltig gesteigerten
Stoffwechsels, wo der Zusammenbruch sich ankündigt: Die
Menschen haben durch die Ausscheidungsprodukte ihrer Wirtschaft
die wichtigsten Senken bald bis zum Rande gefüllt. Luft,
Wasser und Boden können uns nicht mehr „entsorgen“.
Waldvernichtung, Ozonloch, Treibhauseffekt, Verschmutzung der
Meere, Erosion und Versauerung oder Versalzung der Böden,
beschleunigtes Artensterben in aller Welt, weiter explosionsartig
wachsende Städte mit 15 Millionen Einwohnern (bei denen man
aber kaum von „wohnen“ sprechen kann und für die
es großenteils „nichts zu tun“ gibt), alle zwei
Sekunden der Hungertod eines Kindes, und dennoch innerhalb meiner
eigenen Lebenszeit fast eine Verdreifachung der Erdbevölkerung
– dies sind zwar für viele von uns noch immer leicht
verdrängbare Symptome, wie ein ständiges schwaches
Jucken. Doch wer tiefer schaut, sieht längst, wie es unter
die Haut geht, wie sich unsere Metastasen schon bis in den
letzten Winkel der Erde ausbreiten, den ganzen Organismus mit
ihren Giften überschwemmen.
Die Krankheit kam nicht
plötzlich. Schon im erwachenden Bewußtsein der
frühesten Menschen mag sie sich angekündigt haben,
erfahren als die Vertreibung aus dem Paradies. Die Propheten
aller Zeiten und Völker warnten vor ihrem weiteren
Fortschreiten, wenn sie auch die Symptome des einstigen
Spätstadiums noch kaum ahnen konnten. Dann gewöhnte man
sich allmählich an diesen Fortschritt, oft ohne großes
Leiden. Wir haben nur noch verschwommene Erinnerung an Gesundheit
– in Resten uralter Traditionen und aus Träumen, aus
der Kindheit, vielleicht aus der Erfahrung von Liebe. Doch nun
pocht der Schmerz, das alte Warnsignal, unüberhörbar.
Spürbar schwindet die Lebenskraft. Der Niedergang scheint
unaufhaltsam. Trauer und Zorn mischen sich. Sollen wir in
Depression und Haß versinken? Sollen wir mit zynischem
Sarkasmus dem lieben Gott seine mißratene Welt vor die Füße
werfen? Sollen wir uns in Würde auf das Ende vorbereiten?
Oder wollen wir uns noch einmal aufbäumen, die Symptome neu
sichten, eine treffendere Diagnose stellen, vielleicht gar die
kleine Fehlinformation an der Wurzel aufdecken, eine rettende
Therapie einleiten, unserer Welt Regeneration und neuen Aufstieg
ermöglichen? Wer Kindern in die Augen schaut, weiß die
Antwort.
Sie sehen schon: Dies wird kein Sachbuch im heute
üblichen Sinn. Es soll nicht einen Bereich der Welt
herausgreifen und den Leser über diesen unterrichten. Unsere
ganze Welt ist das Thema, und sie ist wohl nicht einmal für
Juristen eine „Sache“.
Wir werden uns also der
Welt nicht gegenüberstellen, wie das die Wissenschaft zu tun
pflegt, sondern auch nach der „Ganzheit“, nach dem
„Umgreifenden“ Ausschau halten. Tausende von
Generationen vor dem wissenschaftlichen Zeitalter haben dies
getan, sicher nicht mit weniger Begabung als wir, und ihre
Einsichten sind in die Sprachen und ihre Mythen eingegangen.
Manches davon möchte ich mit einiger Übersetzungsarbeit
für uns retten oder wiedergewinnen, indem ich es so zu
formulieren versuche, daß Widersprüche zu
wissenschaftlichen Einsichten sich in neuer Sprache auflösen
können. Ich will einen einfachen Gedanken hin- und
herwenden, bis er jeder Weltanschauung einleuchten kann. Er soll
die „kleine Fehlinformation an der Wurzel“ aufdecken
helfen, jenes aus kindlichem Größenwahn geborene
Mißverständnis: Wer die Grundgesetze der Natur
entdeckt habe, der könne nun in Eile die Welt
verbessern.
Da ich mich beruflich mit der physikalischen
Beschreibung der Welt beschäftigt habe, werden freilich
wissenschaftliche Ergebnisse durchaus eine Rolle spielen. Auch
die Denkweise und die illustrierenden Bilder sind oft davon
beeinflußt. Aber es kommt mir nirgends auf
wissenschaftlichen Wahrheitsbeweis für meine Aussagen an.
Alles was ich durch die Wissenschaft erfahren habe, wird vielmehr
durch meine eigene Person reflektiert oder gebrochen erscheinen.
Doch deshalb muß das, was ich zu sagen habe, nicht so
beliebig sein, wie es vielleicht der Postmoderne anstünde.
Mein Denken ist altmodisch und langsam – noch immer mit der
Aufklärung beschäftigt oder mit deren Recycling, wie
ich es einmal nannte. Aber es hat sich in fünf Jahrzehnten
beim Anschauen der Welt unter dem Zwang entwickelt, aus jener Wut
und Trauer doch Hoffnung zu schöpfen, und es erhält
dadurch eine gewisse Verläßlichkeit und
Widerstandsfähigkeit, wie ein sorgfältig geflochtenes
Rettungsfloß, eine Art schwimmender Insel – aber nur
in dem Sinn, daß es hoffentlich Menschen, die von hier aus
weiterdenken wollen, nicht in einem Sumpf von Beliebigkeit
versinken lassen wird. Mancher mag über meinem scheinbaren
„Materialismus“ oder „Reduktionismus“
ungeduldig werden. Wer noch in geistigen Traditionen aufwachsen
konnte und darin geborgen blieb, wird staunen, warum er bei der
Geschichte von Raum, Zeit und Materie beginnen sollte, um etwas
über das eigene Wesen und seine eigene Aufgabe zu lernen,
die er doch längst offenbart glaubt. Wer allerdings sieht,
wie wenig die geistigen Traditionen den sogenannten Materialismus
an der Eroberung der Welt und nun vielleicht an ihrer Zerstörung
hindern konnten, der ist vielleicht doch geneigt, sich einmal in
ein „wissenschaftliches Weltbild“ hineinversetzen zu
lassen und in ihm neue Erfahrungen zu machen.
Meist werde
ich nicht der Herkunft meiner Gedanken und Formulierungen
nachgehen. Sicherlich ist vieles davon vorher, gleichzeitig oder
nachher auch von anderen gedacht worden, doch selbst, wo mir dies
ausnahmsweise bekannt ist, werde ich nichts zitieren. Es soll
eine Collage entstehen, die als Gesamtbild ihren Wert hat, nicht
durch die in ihr verwendeten, verwandelten, Materialstückchen.
Das als Nachweis von Wissenschaftlichkeit geltende Zitieren von
Quellen ist ohnehin oft eine Farce – dann nämlich,
wenn es sich nur um Meinungen handelt, die eine eigene Meinung
stützen sollen. In der Mathematik und den exakten
Naturwissenschaften gibt es für hinreichend simple Aussagen
tatsächlich Beweise, auf die man sich berufen darf, um sie
nicht stets wiederholen zu müssen, wenn man auf ihnen weiter
aufbauen will. Doch sobald der Gegenstand komplexer wird, hört
die Verläßlichkeit auf. In den Geistes- und
Gesellschaftswissenschaften, die sich damit einen exakten
Anstrich geben wollen, knüpft das Zitieren genaugenommen
wohl eher an traditionelle Vorstellungen von Heiligen Schriften
und begnadeten Autoritäten an. Zwar will kaum noch ein
Wissenschaftler solche anerkennen, aber ein bißchen wärmt
doch jeden die Hoffnung, er selbst erwerbe einen Hauch
unantastbarer Heiligkeit, wenn andere ihn zitieren. Um dies zu
erreichen, zitiert er zweckmäßig ebenfalls andere, und
so kommt es, daß schließlich die ganze Wissenschaft
einen Schein von Heiligkeit um sich hat. Diesen möchte ich
hier nicht verstärken.
Ich will Sie auf Gedanken
stoßen, zu denen auch Ihnen, ganz ohne Wissenschaft, etwas
einfallen kann. Lesen Sie das Buch also bitte eher als eine Art
Feuilleton. Und in der Tat beginnen wir mit dem Wiederabdruck
eines Zeitungsartikels. Im Januar 1988 hatte Christian Schütze,
seit langem engagierter Streiter für eine vernünftigere
Umweltpolitik, in der Süddeutschen Zeitung einen Aufsatz mit
dem Titel Das Grundgesetz vom Niedergang veröffentlicht, in
dem er darstellen wollte, warum alles menschliche Wirtschaften am
Entropiesatz, also dem „Zweiten Hauptsatz der
Thermodynamik“ scheitern müsse.* Damit löste er
bei vielen Lesern tiefen Pessimismus aus oder bestätigte
ihn, wo er ohnehin schon eingekehrt war. Er regte mich damit zu
einer Antwort an, in der ich Gedanken zusammenfaßte, die
ich seit vielen Jahren in Vorträgen, Aufsätzen und
Büchern darzustellen versucht hatte, um dem zunehmenden
Pessimismus fast aller Sensiblen entgegenzuwirken.**
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Wie die
Welt es schaffte, uns Menschen hervorzubringen, die wir nun alles
besser machen wollen, das sehen wir uns am besten noch einmal
ganz knapp in dem beliebten Zeitrafferfilm an, den auch ich zur
Veranschaulichung benutze, seit ich über die
»Weltgeschichte« rede und schreibe. Ich zitiere mich
hier teilweise selbst aus dem Vortragstext Einfalt und
Vielfalt – Über das Wesen der Energie- und
Wachstumskrise (nachgedruckt z. B. in meinem Briefwechsel mit
Heinz Maier-Leibnitz, zuletzt in der Neuausgabe unter dem Titel
Kernenergie
– Ja oder Nein?, München
1987).
Drängen wir die Geschichte der Welt vom
Urknall bis heute auf ein Jahr zusammen.
Der Einfachheit
halber sei jeder Monat eine Milliarde Jahre. Etwa eine Woche
braucht die Sonne zum Umlauf um das Zentrum unserer Milchstraße,
ein Tag sind fünfunddreißig Millionen Jahre, eine
Stunde also eineinhalb Millionen Jahre, eine Minute etwa
fünfundzwanzigtausend Jahre und eine Sekunde knapp
vierhundert Jahre. Etwa eine Zehntelsekunde in diesem Weltjahr
hat jeder von uns Zeit, selbst an der Front der Evolution
mitzutasten und mitzuwählen.
Betrachten wir die uns
bekannte Weltgeschichte in diesem Zeitraffer.
Es ist
Silvester. Wir stehen hier, mit Sektgläsern in den Händen,
und warten auf den Gong, der das neue Jahr verkündet. Genau
vor einem Jahr begann alles mit dem Urknall. Lassen wir dieses
Jahr schnell noch einmal vor unserem inneren Auge vorübergleiten,
wie dem Sterbenden noch einmal sein Leben vorübergleiten
mag.
Wie war das alles?
Vor genau einem Jahr war
all das, was wir jetzt vom Universum sehen, ganz dicht bei uns,
vielleicht in einem einzigen Punkt mit uns. Der Urstoff, eine
Strahlung, die den Raum gleichmäßig und mit ungeheurer
Dichte und Temperatur erfüllte, besaß noch keinerlei
Struktur, aber durch den Schwung der geheimnisvollen Urexplosion
dehnt er sich seither gegen seine Schwerkraft aus und kühlt
sich dabei ab. Nun erzwingen die Naturgesetze – was immer
das ist – und die Regeln der Statistik die Entstehung und
Entwicklung von Strukturen. Schon in einem winzigen Bruchteil der
ersten Sekunde des 1. Januar entsteht die Materie. Spätestens
am 2. Januar gewinnt sie die Oberhand über die sich rascher
verdünnende Strahlung, und die Temperatur sinkt unter einige
tausend Grad, so daß Klumpenbildung und damit die im
vorigen Kapitel geschilderte astrophysikalische Strukturbildung
einsetzt. So entstehen noch vor Ende Januar die Galaxien und in
diesen die ersten Sterngenerationen. Nun brauen die Sterne in
ihren zentralen Atomreaktoren die höheren chemischen
Elemente. Sterbende Sterne reichern das sie umgebende Gas damit
an, zum Teil auch in Form von Staub. Die Gesetze der Kernphysik
sorgen dafür, daß Kohlenstoff besonders häufig
wird. Atom- und Molekülphysik sorgen für den Aufbau
schon ziemlich komplexer organischer Moleküle in den Staub-
und Gaswolken um junge Sterne.
Nun ist also schon mehr als
das halbe Jahr vergangen, da ballt sich Mitte August aus einer
zusammenstürzenden Wolke von Gas und Staub unser
Sonnensystem. Schon nach einem Tag ist die Sonne etwa im gleichen
Zustand wie heute und versorgt ihre Planeten etwa bis zum Sommer
des nächsten Jahres mit einem ziemlich konstanten
Strahlungsstrom von etwa sechstausend Grad Temperatur. Da der
übrige Himmel dunkel und kalt ist, kann die Erde die so
empfangene Energie bei tieferer Temperatur wieder abstrahlen, und
so setzt nach den Gesetzen der Selbstorganisation dissipativer
Systeme komplexere Strukturbildung ein. Unter den gegebenen
Bedingungen und Naturgesetzen führt hier das Abtasten des
Raumes der Möglichkeiten zur chemischen, biologischen und
schließlich zur kulturellen Evolution – immer nach
Darwins Regeln: durch Konkurrenz in Vielfalt.
Von Mitte
September stammen die ältesten Gesteine der heutigen
Erdoberfläche, und schon in ihnen finden sich die ersten
erhaltenen Lebensbeweise: fossile Einzeller. Nur wenige Wochen
also hat es gedauert, bis die noch relativ primitive »Sprache«
katalytischer Prozesse der organischen Chemie durch die
Entwicklung des genetischen Code überflügelt wurde. Die
Ausdrucksfähigkeit der auf ihm aufbauenden Sprache
entwickelt sich schnell weiter. Schon von Anfang Oktober finden
wir fossile Algen. Es beginnt die allmähliche Anreicherung
der Atmosphäre mit Sauerstoff aus der Photosynthese –
also durch Spaltung von Kohlendioxid mit Hilfe von Sonnenenergie.
Durch den entstehenden »Ozonschild« wird das
ultraviolette Licht geschwächt, und so läßt sich
noch empfindlicheres Leben verwirklichen. Die Atmung wird
entwickelt, immer komplexere innere Zellstrukturen entstehen –
teilweise vielleicht durch »Endosymbiose«, also durch
Aufnahme vorher »selbständiger« Lebewesen als
Organe von höheren. Aber genaugenommen kann man ohnehin nur
von relativ größerer oder kleinerer »Selbständigkeit«
sprechen, denn alles entwickelt sich in vielfältigsten
Wechselwirkungen gemeinsam. Im Oktober wird die Vielzelligkeit
entwickelt und wohl auch schon die Sexualität – ein
Vermehrungsverfahren, bei dem die zufälligen Mutationen viel
schneller in einer großen Population verbreitet werden
können.
Die ersten zwölf Tage des Dezember
bezeichnen die Geologen als Präkambrium. Eine gewaltige
Artenvielfalt entwickelt sich im Meer. Die ersten Tiere tauchen
auf, zunächst nur die niedrigsten: Würmer und
Hohltiere. Im Kambrium, vom 13. bis 16. Dezember, finden sich
schon Muschel- und Schneckenarten. Im Silur, vom 17. bis 19.
Dezember, erscheinen die Ammoniten, aber schon an seinem Anfang
auch die ersten Wirbeltiere: Urfische. Dann kommen die ersten
Pflanzen aufs Land: Nacktfarne. Schnell erobern sie alle
Kontinente, und die Atmosphäre erreicht den heutigen
Sauerstoffgehalt. Im Devon, am 20. und 21. Dezember, sind die
Landmassen bereits von Wald bedeckt. Schachtelhalme,
Bärlappgewächse und Farne herrschen vor, aber schon
tauchen auch die ersten Samenpflanzen auf. Aus Lungenfischen
entstehen Amphibien, die die Küsten und feuchtes Land
erobern. Skorpione, Tausendfüßler und Spinnen
erscheinen in den Wäldern. Im Karbon, am 22. und 23.
Dezember, gesellen sich zu den riesigen Farnen und
Schachtelhalmen, aus denen sich unsere Steinkohlenlager bilden,
auch die ersten Nadelbäume, umschwirrt von libellenartigen
ersten Insekten. Aus Amphibien entstehen Reptilien, die nun auch
das trockene Land besiedeln. Der 24. Dezember, die Permzeit, ist
noch von Baumfarnen und Gingkobäumen beherrscht, doch schon
am Morgen des Weihnachtstages beginnen die Nadelwälder, sie
abzulösen. Erste Saurier sind da. Reptilien erobern das
Wasser und die Luft. Das warme Blut wird erfunden. Bis zum Ende
des Trias, am Abend des 26. Dezember, gibt es schon viele
niedrige Säugetiere, die aber noch Eier legen. Im Jura, von
der Nacht zum 27. bis zum Mittag des 28. Dezember, entfalten sich
die Saurier weiter in den Meeren und in der Luft. Auch Haie
erscheinen, die ersten Dinosaurier und die ersten Vögel. Die
Säugetiere, nun vor allem Beuteltiere, führen noch
immer ein Kümmerdasein. (An dieser Stelle pflege ich zu
sagen: In Nischen, verborgen vor den Mächtigen, wird die
Intelligenz vorbereitet…) In der Kreidezeit schließlich,
vom Mittag des 28. bis in die ersten Stunden des 30. Dezember,
wird die Pflanzen- und Tierwelt der »modernen« immer
ähnlicher: Blütenpflanzen und Insekten entfalten ihre
phantastische Vielfalt, und die Säugetiere und Vögel
übernehmen die Macht von den Drachen. Etwa um vier Uhr früh
am 30. Dezember ereignet sich die Katastrophe (vielleicht der
erwähnte Einschlag eines Asteroiden von der Größe
des Montblanc), mit der die Kreidezeit in den Tertiär
übergeht. Zugleich beginnt die Auffaltung der großen
Gebirge unserer Zeit.
Bis jetzt ist die biologische
Information stets in den Genen, also Nukleinsäuremolekülen,
gespeichert. Erst an den beiden letzten Tagen des Jahres wird die
Speicherung in komplexen Eiweißstrukturen des Gehirns
benutzt, um über diese genetische Fixierung wesentlich
hinauszugehen. Die Verflechtungsmöglichkeiten von Neuronen
im Gehirn bieten dem Drang nach Komplexität völlig neue
Ausdrucksmittel: Das Lernen wird wichtig, Seele und Geist können
sich entwickeln.
In der Nacht zum 31. Dezember, vergangene
Nacht, entspringt der Menschenzweig dem Ast, der zu den heutigen
Menschenaffen führt. Nun bleibt uns ein Tag, um uns selbst
zu entwickeln. Mit etwa zwanzig Generationen pro Sekunde
erscheint dies nicht schwierig. Aber unser Werdegang ist dürftig
dokumentiert. Erst von etwa zehn Uhr am Silvesterabend stammen
die Skelettreste der Olduvaischlucht in Ostafrika. Fünf
Minuten vor zwölf leben die Neandertaler. Ihre Gehirne sind
schon vergleichbar den unseren. Zwei Minuten vor zwölf
sitzen wir ums Feuer, stammeln und winseln und klatschen
rhythmisch in die Hände, bemalen die Wände unserer
Höhlen mit Bildern unserer Beutetiere und legen Waffen oder
Honig und Körner in die Gräber unserer Väter. Die
Blütezeit der Sprachen, und damit der Kulturen, bricht an.
Seit fünfzehn Sekunden wird die Geschichte Chinas und
Ägyptens überliefert, fünf Sekunden vor zwölf
wird Jesus Christus geboren. Eine Sekunde vor zwölf beginnen
die Christen gerade mit der Ausrottung der amerikanischen
Kulturen.
Oh – da ist schon der Gong! Prost Neujahr!
Was wird es bringen?
Keine Zeit, auch nur über die
nächste Sekunde nachzudenken! Denn nun geht‘s erst
richtig los. Die wachsende Populationsdichte und die
Höherentwicklung der Wechselwirkungsmöglichkeiten, also
der »Sprachen«, hat offenbar die
Evolutionsgeschwindigkeit immer mehr beschleunigt. Eine
gewöhnliche Uhr kann jetzt das Tempo des Fortschritts nicht
mehr messen. Da brauchen wir schon Präzisionsinstrumente. In
der letzten hundertstel Sekunde ist die Erdbevölkerung schon
wieder um eine weitere Milliarde gewachsen. Und erst der
Wohlstand! Wenn auch natürlich nicht für die zuletzt
hinzugekommenen paar Milliarden. Bis auch diese voll mit
einsteigen können, müssen wir alle erst noch tüchtig
weiterarbeiten!
Doch bevor in der Glocke, die das neue
Jahr einläuten soll, der Klöppel die Wand trifft und
den ersten Ton erzeugt, werden wir alles Öl verpufft haben,
das uns die Sonne während der letzten Wochen speichern half.
Der Raubbau an der toten und an der lebendigen Erde geht immer
schneller, immer mehr Ressourcen werden erschlossen, immer mehr
Senken füllen sich. Müll wird nun schon auf Deponien zu
Südseeinseln verschifft. Kein Wunder, denn wo man ihn in der
eigenen Nachbarschaft verbrennt, wie wir das hierzulande tun, da
reichert man Luft, Boden und Wasser mit den lebensfeindliebsten
Giften an, die wir bisher kennen – z.B. mit Dioxinen.
Mütter dürften eigentlich nicht mehr ihre Kinder
stillen – aber wir planen immer mehr
Müllverbrennungsanlagen. Müll zu vermeiden ist ja noch
so unendlich viel schwieriger als Kinder zu vermeiden! Auch darf
man den Beitrag des Mülls zum Bruttosozialprodukt nicht
unterschätzen. Und Müll sichert Arbeitsplätze! Was
alles zu tun ist! Millionen von Tonnen chemischer Verbindungen
werden durch Landwirtschaft, Industrie und Abfallbeseitigung in
die Biosphäre eingebracht. Hunderttausende von neuen Stoffen
sind dabei, die es zuvor nur im Raum der Möglichkeiten gab –
nicht aber in der Wirklichkeit. Und weltweit werden radioaktive
Nuklide verstreut, die ebenfalls seit der Entstehung der Erde
hier nicht vorkamen. Wieviel reicher wird die Welt!
Nicht
nur Flüsse, Seen und Randmeere sind voller Dreck und Gift,
sogar die Ozeane geraten aus dem Gleichgewicht. Die menschliche
Wirtschaft bringt insgesamt schon mehr Schwermetalle in Boden,
Luft und Wasser ein, als die natürlichen
Verwitterungsprozesse in der gleichen Zeit es schaffen –
ganz zu schweigen von den extremen lokalen Konzentrationen
solcher Gifte gerade dort, wo viele Menschen leben. Die Wälder
der Erde werden abgehauen. Aus den wertvollsten Hölzern baut
man vielleicht Lärmschutzwände. Oder sie werden einfach
niedergebrannt, um wieder ein paar Jahre lang Weiden für
Rinder zu haben. (Bald brauchen schließlich fünf
Milliarden Menschen täglich ihren Hamburger.) Freilich ist
das Land ungeeignet und bald erschöpft, aber das macht
nichts – es gibt ja noch Neuland. Gerade dort allerdings,
wo man Wälder gern erhalten will, da beginnen sie
abzusterben. Die »neuartigen Waldschäden« bieten
interessante Forschungsarbeit für Biologen. Mehr als
Ausgleich für den Verlust an lebenden Arten, von denen nun
etwa stündlich eine für immer von der Erde
verschwindet! Die letzten noch unangetasteten Gebiete der Erde
werden in den Fortschrittstaumel einbezogen. Auch die Muttermilch
der Eskimos und der Reste anderer »Naturvölker«
ist schon vergiftet. Gaias Kreisläufe versorgen sie mit
vielen Errungenschaften der Kulturvölker, sogar bevor diese
ihre gewaltigen Ausbeutungsmaschinen dort einziehen lassen.
Und
nun wird auch noch das Gleichgewicht der ganzen Erdatmosphäre
gestört.
Gaias globale Regelungsmechanismen für
den Sonnenenergiehaushalt beginnen zu versagen. Einerseits wird
die stratosphärische Ozonschicht abgebaut, die das höhere
Leben auf der Erde erst ermöglichte, weil sie das
ultraviolette Licht zurückhält, andererseits werden
immer mehr und immer neue Gifte (darunter auch Ozon!) in der
unteren Atmosphäre angereichert, wo sie die Wälder, die
Atmungsorgane der Atmosphäre und alles andere Leben
schädigen. Doch noch bedrohlicher: Vielerlei Spurengase, wie
Kohlendioxid, Methan, Lachgas und Fluorchlorkohlenwasserstoffe,
vor allem als Ausscheidungen der höheren Zivilisation in die
Luft gelangt, lassen die Wärmestrahlung nicht mehr so gut
hinaus. Allein das, was wir in den letzten Jahrzehnten
freigesetzt haben, wird die Temperatur vorerst unaufhaltsam
weiter ansteigen lassen. Wie die empfindlichen Regelkreisläufe
des Klimas und der Meeresströmungen darauf reagieren werden,
ist noch nicht absehbar. Aber es ist klar, daß Katastrophen
nicht auszuschließen sind: Überflutung der
Küstenländer, Verdorren der fruchtbarsten Landstriche,
Zusammenbruch der Ernährungsgrundlage ganzer Völker.
Panik von Millionen, ja fast Milliarden Verhungernder beginnt man
sich auszumalen; Rache an den Industrieländern und
internationalen Konzernen, die all dies auf dem Gewissen haben …
Ja, wenn es ein Gewissen von Staaten und Konzernen gäbe!
Aber
nun sollen auch noch die letzten arktischen Einöden und der
eisbedeckte antarktische Kontinent wirtschaftlich erschlossen und
ausgebeutet werden. Was könnte man auch dagegen unternehmen!
Niemand traut sich zu, dies verhindern zu können. Immer noch
ist es nicht genug. Es müssen ja auch noch ein paar
Milliarden Menschen mehr werden. Und eines Tages soll jeder der
zehn Milliarden Erdenbürger jährlich zehntausend
Kilometer Auto fahren und zehntausend Kilometer fliegen –
nicht wahr? Alle sollen in Saus und Braus leben, wie wir. Schon
die Gerechtigkeit erfordert es, daß alle Zugang zu diesem
unserem überlegenen System erhalten.
Alles im Namen
der Krebsparole: Immer schneller, immer mehr vom Gleichen! Wie
dumm nur, daß diesmal die evolutionäre Überlegenheit
nicht Langlebigkeit bedeutet, sondern Zusammenbruch. Das ist das
Wesen großer Instabilitäten: Sie bewirken ein Gefühl
der Gleichheit in ihrer Umgebung, überzeugen die gesamte
Nachbarschaft, daß es effektiver ist, sich dem
wohlgeordneten Strom anzuschließen, ziehen soviel wie
möglich mit sich in den Strudel des Untergangs.
Die
Antriebe dieser Instabilität sind die scheinbar
erfolgreichsten jüngeren Errungenschaften der Evolution des
Lebendigen: die Wissenschaft und Technik einerseits und die
Wirtschaft andererseits. Beide stellen selbst Evolutionsprozesse
dar, mit gewissen Eigengesetzlichkeiten, aber auch in starker
Wechselwirkung untereinander und mit den übrigen
menschlichen Aktivitäten.
Die Grundidee von
Wissenschaft und Technik ist: Wenn wir verstehen, welchen
Gesetzen die Materie in all den verschiedenen Gestalten in Raum
und Zeit folgt, so können wir solche Gestalten nicht nur bei
Bedarf nachahmen, sondern sogar viel nützlichere Kreationen
erschaffen und unbegrenzt vervielfältigen.
Die
Grundidee der Wirtschaft aber ist: Wenn wir mehr produzieren und
verkaufen können, also auch mehr Geld fürs Kaufen
haben, geht es uns immer besser, und die Welt wird dabei immer
wertvoller. Schließlich besteht ja die gesamte Produktion
aus »Gütern«. Schon der Name sagt, daß
nichts Schlechtes dabei sein kann. (…)
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